Gaddafis Massakerankündigung löst Fluchtwelle aus. EU-Innenminister beraten über die temporäre Aufteilung der Menschen innerhalb der Europäischen Union. Das Chaos könnten aber auch Wirtschaftsflüchtlinge nutzen.
Die Welle ist noch klein, aber sie könnte sich in den nächsten Tagen zu einer riesigen Fluchtwelle ausweiten. Nach den Ankündigungen des libyschen Staatschefs Muammar Gaddafi, gewaltsam gegen Regimegegner vorzugehen, flüchten seit gestern, Mittwoch, bereits tausende Menschen aus dem Land. Sie reisen vor allem über die Grenzen nach Tunesien und Ägypten aus. Während es derzeit vor allem Ausländer sind, die das Land verlassen, könnten in den nächsten Tagen auch libysche Staatsbürger folgen, die vor Massakern und Gewalt durch Söldner und regimetreue Sicherheitskräfte fliehen.
„Die EU hat die Verpflichtung, diese Menschen aufzunehmen“, sagt Europarechtler Walter Obwexer von der Universität Innsbruck. Das Innenministerium bestätigt, dass Libyer, die vor der Gewalt ihres Regimes flüchten, „selbstverständlich“ ein Recht auf Aufnahme in Europa (und damit auch in Österreich) hätten. Auch das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) geht davon aus, dass diese Menschen zumindest temporär aufgenommen werden müssten. Sie sind klassische Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention.
Heute, Donnerstag, beraten dazu in Brüssel die 27 EU-Innenminister. Am Treffen wird auch UNHCR-Chef António Guterres teilnehmen. Über die Dimension der Massenflucht gibt es einstweilen nur Spekulationen. Italien rechnet mit mindestens 300.000 und drängt auf eine Aufteilung unter allen Mitgliedstaaten. Auch die Bestrebungen der EU-Kommission gehen in diese Richtung. Es wird überlegt, eine temporäre Schutzklausel für alle libyschen Staatsbürger zu aktivieren. Sie hätten dann automatisch ein Recht auf vorübergehende Aufnahme in die EU. Diese Maßnahmen würden vor allem die Abwicklung von Asylverfahren erleichtern.
Europarechtler Obwexer sieht die Möglichkeit, dass eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2001 aktiviert werden könnte. Über sie würden im Falle einer Massenflucht Mindeststandards und die Aufteilung unter Mitgliedstaaten geregelt. Wenn ein Beschluss zu dieser Richtlinie fällt, wäre eine qualifizierte Mehrheit ausreichend. Das bedeutet, dass Länder, die sich gegen eine Aufnahme stellen, auch überstimmt werden könnten. Wobei die konkrete Aufteilung der Flüchtlinge mit allen Mitgliedstaaten – also auch Österreich – extra ausgehandelt werden müsste.
Angst vor Wirtschaftsflüchtlingen
Problematisch wird es für die EU-Staaten, beim Einsetzen einer Massenflucht zwischen politischen Flüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen zu unterscheiden. In Libyen leben laut Auskunft der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zwischen 1,5 und zwei Millionen Zuwanderer. Ein Teil davon hofft auf eine Ausreise in die EU. Das Land war schon in der Vergangenheit ein bedeutendes Transitland für illegale Zuwanderer nach Europa. Gaddafi hat die 2000 Kilometer lange Küste zuletzt bewachen lassen, um die Migration nach Italien aufzuhalten. Im Chaos des Bürgerkriegs könnte dieser Weg nach Europa aber plötzlich offenstehen und eine Massenzuwanderung einsetzen.
Die EU hat nach einer Welle von vorwiegend illegalen Zuwanderern aus Tunesien bereits die Grenzschutzmission „Hermes“ gestartet, die Patrouillen im Mittelmeerraum durchführt. Sie wird nach vorläufigen Schätzungen zwei Millionen Euro kosten. Im Falle eines Massenexodus aus Libyen müsste sie aufgestockt werden.
Das UN-Flüchtlingshochkommissariat drängt darauf, dass auch bei Migrationswellen über das Meer jeder Person die Chance auf ein ordentliches Asylverfahren gewährt werden müsse. Nur dadurch könnten politische Flüchtlinge die notwendige Hilfe erhalten. Die UN-Experten rechnen damit, dass die Europäische Union nicht das Hauptziel der Flüchtlinge sein wird. „Die größten Flüchtlingsströme wird es in die Nachbarländer geben“, ist Milita Sunjic vom UNHCR-Büro in Brüssel überzeugt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.02.2011)