Wem gehört diese Frau?

Kärnten-Wien gegen Tirol-Salzburg: Im Kampf um die Rechte an der großen, geheimnisvollen österreichischen Dichterin Christine Lavant ist die Germanistik nicht zimperlich.

Was blieb von Christine Lavant in Erinnerung? Gedichtbücher aus den späten Fünfziger-, frühen Sechzigerjahren, die ihr Verlag, Otto Müller in Salzburg, noch heute mit den Zierschrift-Schutzhemdchen von damals feilhält: „Die Bettlerschale“, „Spindel im Mond“, „Der Pfauenschrei“. Ihre Gedichte beginnen mit Klagezeilen wie „Meine Schwäche geht mit mir um“, „Wo ist mein Anteil, Herr, am Licht“, „Auf allen Stufen meines Leibes haust ein Schmerz“, „Zerschlage die Glocke in meinem Gehör“. Seit Kindertagen hinfällig und fast taub, durchstöberte sie schier manisch das Naturinventar vor ihrem Fenster: „Baum in der Sonne, ohne Nest und Blatt“, „Der Mond nimmt zu und heilt sich aus“, „Stern, geh jetzt heim, mir zittert schon die Hand“. Seit ihrer einzigen Fernreise, 1958 nach Istanbul, erträumte sie sich türkische Vorfahren. Ihr Pseudonym hat sie als Lavanttalerin punziert.

Fotos zeigen die Gewinnerin des Großen Österreichischen Staatspreises wie von Segantini, Egger-Lienz oder Barlach arrangiert, mit straff gebundenem Kopftuch im Türkensitz in ihrer Wohnkammer. Man tuschelt nochimmer über das delika-
te Nicht-Geheimnis ihrerLiebe zu Werner Berg,dem Kärntner Maler,Holzschneider und Spätexpressionisten (beidewaren verheiratet). DieAnrufungs- und Bekenntnispoesie der als Christi- ne Thonhauser 1915 geborenen, 1973 verstorbenen Armeleuttochterfand Leser auch jenseitsvon Salzach und Inn – dank der Auswahlbändchen von Grete Lübbe-Grothues (1972 bei dtv), von dem um Poetae maiores et minores unendlich verdienten Lyrikapostel Horst Heiderhoff (1982) und von Jürgen Israel (1984 in der DDR).

Thomas Bernhard erwirkte 1987, kurz vorseinem Tod, bei Siegfried Unseld einen Bandin der Bibliothek Suhrkamp. Wie die Lavant hatte er seine religiös eingefärbten frühen Gedichte („In hora mortis“) bei Otto Müller untergebracht; beide fanden beim kleinfeudalen Ehepaar Maja und Gerhard Lampersberg – arg gezaust im Roman „Holzfällen“ – in einem Schlösschen in Maria Saal Freundschaft und Hilfe (wie auch Peter Turrini, Gert Jonke). Das kurze Nachwort ist die weichherzigste, solidarischste Ansage, die vonBernhard bekannt wurde: „Dieses Buch dokumentiert die Chronologie der Christine Lavant, die bis zu ihrem Tod weder Ruhe noch Frieden gefunden hat und die in ihrer Existenz durch sich selbst gepeinigt und in ihrem christlich-katholischen Glauben zerstört und verraten war; es ist das elementare Zeugnis eines von allen guten Geistern missbrauchten Menschen als große Dichtung, die in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient, bekannt ist.“ Das Buch ist noch im Handel.

Der Innsbrucker Germanist Wolfgang Wiesmüller verewigte Christine Lavant 1987 im Kritischen Lexikon der Gegenwartsliteratur (KLG). Und damit, wie er selber sagt, im Kanon. 2001 kam ihr Name noch einmal auf die Rezensionsseiten, als Otto Müller „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“ druckte, eine Entdeckung der Herausgeberinnen Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider vom Brenner-Archiv an der Universität Innsbruck. Die beiden saßen seit 1997, mit dem Segen des Verlags, an der Vorbereitung einer Edition der Briefe. Wiesmüller suchte dafür um die Forschungsfördergelder an und bliebals Supervisor dem staatlichen Fonds verantwortlich.

Schnitt. Im Robert-Musil-Archiv an der Universität Klagenfurt – der Musil-Nachlass liegt in der Nationalbibliothek in Wien – begann zur selben Zeit schon Professor Klaus Amann eine Kritische Gesamtedition vorzubereiten. Mit denselben technischen Mitteln und Problemen, nämlich einer digitalen Erfassung aller Texte und deren Kommentierung. Und ebenfalls mit Geld vom Wissenschafts-Förderungsfonds – jedoch ohne den für eine Publikation nötigen Verlagsvertrag mit Otto Müller.

Dieses Salzburger Familienunternehmen, bereits Jahrzehnte von Ar- no Kleibel geleitet, wollte 1997 Amann für eine Gesamtausgabe ins Boot holen. Aber vorerst sollten Steinsiek und Schneidereinen „Gesamtbriefwechsel“ fertigstellen – das poetische Werk war ohnehin beinahe komplett (und zu alten Preisen) auf dem Markt. Die Damen in Innsbruck edierten 2000 – nach bei Amann liegenden Manuskripten – die 1948 erschienene Debüterzählung „Das Kind“ neu. Danach verkrachten sie sich mit dem Archivar. Sein Revanchefoul: Er ließ sie nicht in „seine“ (mit Steuergeld bezahlten und bearbeiteten) unpublizierten Briefe hineinschauen. Darum keine Briefe-Gesamtedition und keine OM-Gesamtausgabe.

In Kolsaß im Unterinntal richteten Steinsiek/Schneider eine „Dokumentationsstelle Christine Lavant“ ein. „Wer mit feministischen Perspektiven vertraut ist, wird die Konstellation als Paradebeispiel bezeichnen können . . . Unrecht, Verkehrungen, Machtspielchen“, bedauerten sie im Sommer 2010 in einem Rundschreiben. Der „Konstellation“entwuchs ein Prozess, der beim Obersten Gerichtshof in Wien endete. Otto Müller verlor zuletzt die Lavant-Rechte wegen eines Formalfehlers.

An Klaus Amanns Seite marschiert ein potenter Mitstreiter: der aus der Werbebranche aufgestiegene Kaufhaus- und Weingutbesitzer Hans Schmid. Der heute 70-jährige Kärntner versuchte in deren Untergangsphase 1990 die sozialdemokratische „Arbeiter-Zeitung“ zu retten und sponsert heute den Eishockeyclub Vienna Capitals. Klaus Amann will nun mit Schmids Hilfe eine reduzierte Lavant-„Leseausgabe“ bei einem starken deutschen Verlag unterbringen. Als Mitarbeiter nennt er Doris Moser und den slowenisch-kärntnerischen Lyriker Fabjan Hafner – nicht aber das Briefteam vom Brenner-Archiv. Ob der österreichische Staat für eine Drucklegung mitzahlt, ist fraglich. Schon 679.805 Euro Zuschuss wurden den Instituten in Klagenfurt beziehungsweise Innsbruck überwiesen. So ungerecht sind Sonne, Mond, Sterne, Gott: Das Kopftuchweiblein erntete an Tantiemen gewiss kein Zehntel des Germanistenlohns.

1994 hatte der Lavant-Erbe, der Neffe Armin Wigotschnig, die gesamten Werknutzungsrechte an OM verkauft – kurz nachdemseine Tochter Christine, die in Wien Germanistik studierte und die logische Weiterbetreuerin gewesen wäre, an Leukämie starb. 1995 verkaufte er, in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, den materiellen Lavant-Nachlass dem Land Klagenfurt. Amann durfte ihn bunkern. Die Liebesbriefe an Berg erwarb die Landesregierung für die Stadt Klagenfurt, die sie ebenfalls Amann weiterreichte.

Im Jänner 2007 jubelte Amann vorschnellauf einer Pressekonferenz in Klagenfurt: „Christine Lavants gesamtes literarisches Werk, das rund 1400 Gedichte umfasst, ist dank umfangreicher Forschungsarbeit des Klagenfurter Musil-Instituts jetzt erstmals auf CD-Rom zugänglich.“ Der Verlag hatte esleicht, diese Urheberrechtsverletzung zu unterbinden. Aber genügten der schwindendenZahl der (mit 1400 Texten überforderten) Gedichte-Leser nicht die OM-Bücher? Und den Germanisten Klagenfurter und Innsbrucker Datenscheiben? Sie könnten mit Schmids Segen übers Netz abrufbar sein.

Wenn Hans Schmid seine Begeisterung für Lavant begründet, erzählt er von einem kleinen Gedichtbüchlein, das er als 16-Jähriger im sonst literaturfernen Villacher Elternhaus in die Hand bekam. Er erwarb Manuskript- und Briefbestände von zwei Ärzten, die „Hebstecken“ für die seit Kindertagen kranke Dichterin waren: vom Augenarzt Adolf Purtscher, der ihr in den Zwanzigerjahren eine Rilke-Ausgabe schenkte und damit den Weg in die Literatur wies, und von Otto Scrinzi, der behutsam ihren Lebensabend in der Klagenfurter Psychiatrie begleitete. Dabei hat Scrinzi, ein Welschtiroler Baron, einen eindeutigen Ruf als ein Rechtsaußen, dem sogar Jörg Haider zu links war. Er soll den Erlös einer rechtsradikalen Zeitschrift („Aula“) gespendet haben.

Schmid half dem Ehepaar Wigotschnig beim Rückruf der Werknutzungsrechte von OM, indem er die Verfahrenskosten übernahm. Kleibel wurde vorgeworfen, er habe die vereinbarte Gesamtausgabe nicht angefangen, es wäre denn, die ersten Bände erschienen bis Mitte 2008. Das österreichische Urheberrechtsgesetz sieht in einem solchen Fall (§ 29) die Pflicht vor, innerhalb von 14 Tagen Stellung zu nehmen. Die Frist wäre einzuhalten gewesen. Versäumt!

Im Juli 2008 starb Armin Wigotschnig. Nun verfügt die Hans-Schmid-Privatstiftung in Wien über die Rechte. Die Tantiemen der OM-Bücher fließen zu Schmid. Bis Ende 2011darf Kleibel seine Lavant-Bücher abverkaufen. Ob die Restauflagen einzustampfen sind, hängt von einem neuerlichen Goodwill-Akt Schmids ab.

OM verlor eine Stütze seiner Backlist, Amann bekam den Weg freigeschossen, die Republik verlor ihre Investition (aber zieht nicht vor Gericht), die zwei unerreichten Korrespondenz-Kennerinnen in Innsbruck sind um ihren Erfolg umgefallen. „Von allen guten Geistern“ sei Christine Lavant missbraucht worden, klagte Thomas Bernhard. Was die Germanistik in Bewegung setzt, um Lavants Werk der Welt bekannt zu machen, hat er sich nicht vorstellen können. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.03.2011)

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