Flüstern und schreien

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Seit zwölf Jahren teilt Monika Mikus ihr Leben mit einer Stimme, die nur sie hört. Im Mai 1999 stellte sie sich bei ihr vor: „Du darfst mich Adonis nennen.“ Adonis habe erklärt, Frau Mikus sei „Jesus im Außendienst“

Gut waschen, unter den Achseln, in den Kniekehlen, zwischen den Zehen, mahnen die Eltern. Am Lebensabend, wenn sich alles umkehrt, zahlen es ihnen die Kinder mit denselben Waschhinweisen gerne zurück. Das ist der gewöhnliche Lauf der Dinge. Wenn eine Frau in den besten Jahren unter der Dusche darin unterwiesen wird, wie sie sich zu waschen habe, ohne dass sie dabei einer Menschenseele gewahr wird, dann mag sie von tiefen Ängsten heimgesucht werden. Monika Mikus weiß von solchen entrischen Begebenheiten zu berichten – und auch davon, wie es ist, wenn einem das ganz normale Leben wie glitschige Seife entgleitet.

Im Sommer 1942 in Düsseldorf geboren, wuchs sie bei ihrer Großmutter in Thüringen auf. Schon der Vater, der aus dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr heimkehrte, sei zur „außersinnlichen Wahrnehmung“ befähigt gewesen. Das erzählte später jedenfalls ihre Mutter, die nach dem Krieg einen österreichischen Gebrauchsgrafiker heiratete und sich in Wien niederließ. Nachdem Monika Mikus sich als Legasthenikerin, wie sie heute weiß, durch eine Klosterschule geplagt, das französische Lyzeum und einige weitere Gymnasien abgebrochen hatte, begann sie mit einem Handelsschulabschluss von der„Privatschule Neumann“ in der Wiener Neubaugasse, wo man die Noten fast habe kaufen können, zunächst als Buchhalterin für verschiedene Firmen zu arbeiten. Doch sie empfand es als Erlösung, als sie sich nachder Heirat mit einem Schaufensterdekorateur als Mittzwanzigerin zunächst dem Haushalt und schließlich der Aufzucht der beiden Söhne widmen konnte.

Mit 40 Jahren musste sie feststellen, dass ihr Mann „andere Wege“ ging. Sie leitete die Scheidung ein, zog beinahe mittellos mit den beiden Söhnen zu ihrer Mutter zurück, um die Abendschule und die Rückkehr ins Berufsleben zu schaffen. „Im Grunde war ich damals weder von meiner Mutter noch vom Mann abgelöst“, erinnert sich Frau Mikus. Mit einem Schlag sei das Leben ins Wanken und die Zukunft in Schwebe geraten. Auch nach der Scheidung habe der Exmann seine Familie besucht. Eines Tages sei er mit einem kleinen Gebilde samt Bleistiftfuß erschienen, um sie und ihre Mutter mit dem Tischchenrücken vertraut zu machen. Gemeinsam habe man den Stiefvater von Frau Mikus, 1971 verstorben, gerufen und gefragt, wie man leben solle. Der Tote habe geantwortet: „Leute, seid gut!“ Die Erfahrungen mit den Geisterwesen begeisterten Frau Mikus, sie hegte nun die Hoffnung, selbst als Medium arbeiten zu können, schlitterte jedoch in eine mediumistische Psychose, ein Begriff, der vom Neurologen und Psychiater Richard Henneberg im Jahr 1919 eingeführt wurde, um eine psychische Störung mit visuellen und akustischen Halluzinationen, auch Stimmenhören, zu beschreiben, die keinen organischen Ursprung hat.

Knarrte der Bauernkasten, meinte Frau Mikus damals, die Geister wollten sie sprechen. Sie sei immer stärker in einen Zwang geraten, sich selbst durch das Rufen der Geister zu beruhigen, es sei zur Droge geworden: „Ich fragte die Geister, welchen Beruf die Kinder einschlagen sollten oder was ich tun sollte, um finanziell über die Runden zu kommen. Die Antworten der Geister waren meist tröstlich.“Alsbald entglitt Frau Mikus der Alltag gänzlich. Als sie eines Tages imJahr 1982 unter der Dusche stand, habe ihr jemand Waschanweisungen gegeben. Die Stimme eines Unsichtbaren habe ihr erklärt: „Ich soll bei dir lernen!“ Siehabe den geheimnisvollen anderen gefragt: „Was machst du, wenn du nicht bei mir bist?“ Darauf habe die Stimme geantwortet: „Ich störe andere Menschen beim Beten!“

Schenkt man epidemiologischen Studien Glauben, so hören drei bis fünf Prozent der Menschen im Laufe ihres Lebens Stimmen. Niemand wird je Ohrenzeuge dieser Stimmen außer man selbst, niemand kann vernehmen, wie sie einzelne Wörter oder ganze Sätze sagen, Stimmen, die flüstern oder schreien, die brummen, grunzen oder kreischen, Stimmen, die Kindern, Frauen oder Männern gehören, solche, die in der Muttersprache sprechen oder fremdländisch klingen, welche, die Angst einflößen, denen ein ironischer oder predigtartiger Unterton innewohnt oder die eine humorvolle Note besitzen.

In der westlichen Welt wird das Stimmenhören, das in anderen Epochen und Kulturen unterschiedlich bewertet wurde und wird, als Ausdruck einer Pathologie gesehen. Wird bekannt, dass man Stimmen hört, trägt man schnell ein unsichtbares Kainsmal, das nicht mehr zu überschminken ist. Darauf können Ausgrenzung und Beschädigung der Identität des Stigmatisierten folgen, die letztlich oft in Selbstbildprobleme und Perspektivlosigkeit münden.

Ergebnisse der Hirnforschung haben gezeigt, dass das Sprachzentrum beim Stimmenhören aktiv ist, während das Monitoringzentrum gehemmt wird. Das Stimmenhören erscheint aus der Perspektive des Gehirns wie eine Art innerer Monolog. Diese deskriptive Beobachtung ist zwar interessant, macht die Behandlung jedoch nicht einfacher. In der Psychiatriegeschichte wurde schon vieles probiert: In den Irren- und Nervenheilanstalten, wie man die einschlägigen Einrichtungen einst nannte, fanden Methoden wie die Hungerkur, das Kaltduschen, Elektroschocks oder Lobotomien, al- so die Entfernung von Gehirnteilen, Einsatz, außerdem experimentierte man mit Fieber- oder Insulinkomatherapien. Bis heute versucht man mit Psychopharmaka der Stimmen Herr zu werden, wobei die Medikamente zwar recht gut gegen die Stimmen an sich wirken, jedoch auf der anderen Seite aufgrund der dämpfenden Nebenwirkungen die sogenannte Negativsymptomatik fördern, die sich etwa in Denk- und Bewegungsstörungen zeigt.

Für Monika Mikus waren es die schwierigen Lebensumstände in Verbindung mit der parapsychologischen Praktik, die das Stimmenhören auslösten. Vom ersten Kontakt mit einer Stimme unter der Dusche erzählte sie einzig ihrer Mutter. Bald überforderten sie diese und andere Stimmen, weshalb sie sich auch Kopfhörer aufsetzte, um die Störenfriede mit Musik zu übertönen. „Mein ganzes Verhalten hat sich damals verändert“, erinnert sich Frau Mikus. Nach einem Nervenzusammenbruch habe sich die Mutter nicht mehr zu helfen gewusst und anstelle eines Exorzisten, wie es eine Freundin zur Austreibung des von ihr vermuteten Dämons empfohlen hatte, einen gewöhnlichen Rettungswagen gerufen. Frau Mikus bekam bei ihrem Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung, der nur wenige Stunden dauerte, von den Ärzten eine hohe Dosis des zu den stark sedierenden Antipsychotika der ersten Generation zählenden Medikaments Haldol verschrieben, das auch heute noch – unter dem Handelsnamen Haloperidol – eingesetzt wird. Diese Arznei habe sie umgehauen, ferngesteuert wie ein Roboter und in ihrer Motorik beeinträchtigt, sei sie herumgegangen. „Damals hatte man in der Psychiatrie offenbar keine anderen Möglichkeiten“, glaubt Frau Mikus. Sie sei sich unter der Wirkung des Haldol in sich selbst eingesperrt vorgekommen und habe sich gefühlt, „wie wenn man aus dem siebenten Himmel in die Hölle fällt“. In diesem Zustand verharrte sie zwei Jahre, in denen sie sich im Bett wohler fühlte als im Leben, das ihr eigentlich abhanden gekommen war.

Ein Arzt erklärte der Mutter, sie solle die Tochter in Ruhe lassen, denn an allem trügen die schizophrenogenen Mütter schuld, ein anderer, der berühmte Neurologe Walther Birkmayer, genannt „Nervenpapst“, wollte ihr wegen der Suizidgedanken, die sie auf Grund ihrer Gefühllosigkeit während der stark überdosierten Gabe von Haldol hatte, eine Behandlung angedeihen lassen, die der Zeit entsprach: „Na Madl, wennst Selbstmordgedanken hast, geben wir dir Elektroschocks!“ Das Haldol hatte Birkmayer sofort abgesetzt und stattdessen ein Nahrungsergänzungsprodukt verordnet, das seiner Forschung entstammte und die befürchteten Parkinsoneffekte dämpfen sollte.

Frau Mikus konnte wieder weinen und lachen, Gefühle kehrten zurück, die zuvor wie erstorben waren. „Es war, als hätte ich ein neues Leben geschenkt bekommen“, beschreibt sie das Gefühl der Befreiung. Sie verzichtete fortan auf die Einnahme von Medikamenten und genoss ihre Rente, eine „Berufsunfähigkeitspension“, für die sie dem österreichischen Staat und seinen Bürgern seither täglich dankt.

Das Leben nahm seinen normalen Lauf, bis ihre Mutter, von der sie sich spät gelöst hatte, 1998 an Krebs starb. Zu dieser Zeit wurde auch bei Frau Mikus selbst ein Karzinom festgestellt, ein Jahr später galt sie jedoch als geheilt. Jetzt befand sie sich, was ihre Finanzen betraf, in einer guten Situation, besaß sie doch durch die Erbschaft von ihrer Mutter eine Wohnung, ein Auto und alles, was man sich nur wünschen konnte. Zusätzlich verlieh ihr die Überwindung der lebensbedrohlichen Krankheit Flügel, sodass sie für ein paar Augenblicke den Boden unter den Füßen verlor.

Eines Tages, am 1. April 1999, ging sie in jenes Papiergeschäft, das sie seit ihrer Kindheit kannte, um ein paar Klarsichthüllen für den älteren Sohn zu kaufen. Daraus wurde eine Ausgabe von gezählten 53.000 Schillingen, zwei Verkäuferinnen rieben sich verdutzt die Hände. „Kauf dir, was du willst, du musst nur ein Motiv haben!“ Mit diesem Satz habe die Stimme, die sich in all den Jahren zwischen 1982 und 1999 sporadisch zu Wort gemeldet hatte, ihren Kaufrausch zumindest mit ausgelöst. „Es war ein Aprilscherz aus dem Jenseits!“, sagt Frau Mikus heute.

Die Söhne hätten freilich bestürzt reagiert, als sie um die Abholung von ein paar Schachteln gebeten habe. Sie habe bizarre Erklärungen für den Einkauf gehabt, sagten die Söhne später. Einige Wochen nach dem großen Einkauf, im Mai 1999, stellte sich die Stimme bei Frau Mikus mit den folgenden Worten vor: „Du darfst mich Adonis nennen.“ Sie sei auf dem Sofa gelegen, als ihr diese Stimme, die einem Mann in den besten Jahren zu gehören schien, „Guten Morgen!“ wünschte. Adonis habe erklärt, Frau Mikus sei „Jesus im Außendienst“ und er selbst kein anderer als „Gott“. Die beiden Söhne, die wohl berechtigte Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit ihrer Mutter hegten, hatten unterdessen still und heimlich ein Entmündigungs- respektive Sachwalterverfahren angestrengt, was Frau Mikus sehr schmerzte. „Du, das ist fein, ich bin gern Jesus im Außendienst, aber dass du Gott bist, nur weil ich in einem Sachwalterverfahren stehe, glaube ich dir nicht“: So habe sie Adonis gleich in die Schranken gewiesen. Für sie sei es aber wunderschön gewesen, dass nach dem Erlebnis unter der Dusche, wieder jemand dauerhaft bei ihr war.

Frau Mikus spricht über das Zusammenleben mit dem nur in ihrer Wirklichkeit vorhandenen anderen ähnlich, wie es Eltern zu tun pflegen, die ihren Kindern die Phasen einer Beziehung, vom Beschnuppern bis in den Alltag einer Ehe, erzählen. Mit Adonis sei sie „im Wonnemonat Mai auf dem Balkon“ gesessen, die Gespräche seien „eine Art Liebesgeflüster“ gewesen, wie man es sich vom antiken Traumpaar Venus und ihrem Liebhaber Adonis vorstellen kann. Adonis habe ihr „Liebhaber und Sekretär“ sein wollen, er habe sich ihr „angeboten“, wie es eben ein Mann tue, wenn er um eine Frau wirbt. Dies habe ihr nach der Scheidung von ihrem Mann und der Trennung von den Söhnen gutgetan, wenngleich sie ihrem Verehrer gestanden habe, keinen weiteren Partner mehr ins Auge fassen zu wollen, was allerdings eine Zusammenarbeit nicht ausschließen würde. Adonis habe gemeint, er wolle auch nur seinen Spaß haben und nicht als Toten- oder Verbindungsgeist fungieren. Gemeinsam hätten sie moralisiert, philosophiert, sich gestritten und wieder versöhnt. Adonis habe alles, was sie erlebt habe, durch ihre Augen und ihre Gefühle miterlebt, ihr Leben sei durch das Stimmenhören sehr bereichert worden.

Dass es auch andere Beispiele gibt, weiß Frau Mikus: „Es tut mir sehr weh, wenn Menschen dadurch in psychische Probleme geraten und Leid erfahren. Das liegt sicher auch an den Stimmen, denn dass jede Stimme so Dialog führen kann wie Adonis, bezweifle ich.“ Adonis sei intelligent, er habe sie auf Herz und Nieren prüfen wollen und versucht, sie zu verändern. Dies sei ihm nur in manchen Bereichen, jedoch nicht hinsichtlich ihrer Grundcharakterzüge gelungen. Manchmal habe er damit gehadert: „Ich hasse dich! Du nimmst mir meine Welt weg!“ Dies seien Hilfeschreie gewesen, vermutet Frau Mikus. Möglicherweise sei Adonis, in dem sie den Geist eines Verstorbenen vermutet, von ihrem Leben besessen gewesen, und weil sie selbst durch ihn auch viele Lebenschancen erhalten habe, sei auch sie ihm mit Nachsicht begegnet.

Im Sachwalterverfahren habe sie nicht nur eine Stimme an der Seite gehabt, sondern auch selbst eine kräftigere bekommen, während es früher immer die Mutter gewesen sei, die für die Kommunikation zuständig war. Doch nun konnte Frau Mikus selbst reden. Adonis habe bei den notwendigen Recherchen immer mit ihr kommuniziert, wodurch sie auf dem steinigen Weg durch mehrere Instanzen, der von vielen Hindernissen und kaum einem Gutachter, der bereit gewesen wäre, ihren Fall zu beurteilen, gesäumt war, einen langen Atem beweisen konnte. Adonis habe ihr bei den diversen Gerichtseingaben dreingeredet und Assoziationen hervorgerufen, durch die sie in den Schreiben abschweifte, schließlich habe sie aber gelernt, sich zu konzentrieren und durchzusetzen. Sie habe sich nach dem erfolgreichen Kampf im Sachwalterverfahren, bei dem sie das Gefühl hatte, gegen Windmühlen kämpfen zu müssen, um den Leuten beweisen zu können, dass sie nicht verrückt sei, wieder in die Gesellschaft eingegliedert.

Froh ist Frau Mikus über die neueren Ansätze in der Psychiatrie, die den Stimmenhörern nicht von vornherein das Etikett der Krankheit umhängen und zu einem Paradigmenwechsel in der Behandlung geführt haben. Einem Zusammentreffen der Stimmenhörerin Patsy Haagan und des Sozialpsychiaters Marius Romme Mitte der 1980er-Jahre in Maastricht ist es zu verdanken, dass dieser Umdenkprozess in Gang gebracht wurde. „Wenn Sie an einen Gott glauben, den Sie nicht sehen können, warum glauben Sie dann nicht an meine Stimmen, die zumindest ich hören kann?“, hatte die verzweifelte Patientin, die von ihrer Stimme schon mehrfach zu Suizidversuchen angestiftet worden war, den Arzt gefragt. Psychiatrische Diagnosen, wie sie dem gängigen Schizophreniekonzept entsprachen, hatten der verzweifelten Frau nicht geholfen, das Phänomen Stimmenhören zu verstehen, und die Einnahme von Medikamenten hatte ihr weder eine Linderung verschafft, noch die Stimme verstummen lassen.

Romme trat, um Kontakt zu erfolgreichen Stimmenhörern zu knüpfen, mit seiner Patientin in einer bekannten Sendung im niederländischen Fernsehen auf, worauf sich 450 Stimmenhörer meldeten, von denen 150 angaben, ohne Psychiatrie ausgekommen zu sein und aufgrund ihrer kognitiven Erklärungsmuster und Bewältigungsstrategien sowie sozialer Akzeptanz einen besseren Umgang mit ihren Stimmen gefunden zu haben. – Der österreichische Sozialpsychiater Heinz Katschnig betrachtet erst das Vorhandensein eines subjektiven Leidensdrucks als ein Anzeichen für Krankheitswertigkeit, und auch für Marius Romme, der als Gründer der internationalen Stimmenhörerbewegung gilt, besitzt das Stimmenhören an sich als Symptom im Rahmen einer Psychose, meist aus dem schizophrenen Formenkreis, oder für sich allein keinen pathologischen Wert. Das entscheidende Kriterium für psychische Gesundheit, sei darin zu erkennen, ob der Betroffene im Falle von als störend empfundenen Stimmen konstruktive Bewältigungsmechanismen in Bezug auf diese entwickelt und einsetzt. Gesund ist folglich, wer sich mit der Botschaft der Stimme auseinandersetzt und einen adäquaten Umgang mit ihr findet.

„Adonis hat zum Glück auch Dinge an sich selbst verändert“, sagt Frau Mikus. So störe er, der wie alle Stimmen immer wach sei, etwa ihren Schlaf nicht mehr, wie er es anfangs tat. Sie habe ihn bei einem Spaziergang zum Parlament auf den ersten Artikel der Menschenrechte hingewiesen, zu denen für sie auch das Recht auf ungestörten Schlaf gehöre.

Auch während unseres Gesprächs, meldet er sich bei Frau Mikus, die wie eine Dolmetscherin das Gehörte übersetzt, immer wieder zu Wort, erinnert sie an Vergessenes oder beharrt auf das Erzählen von dieser oder jener Begebenheit. Frau Mikus weiß, dass man der Gesellschaft nicht zu viel abverlangen darf. So versucht sie, auf behutsame Art für Verständnis zu werben, was ihr nicht nur ein Stück Glaubwürdigkeit, sondern auch die Familie zurückgebracht hat. Ob die Stimme als Realität angenommen werde, sei für sie unwesentlich, es sei eben eine Glaubensfrage. Man müsse es nicht für wahr halten, was sie erlebe.

Frau Mikus sieht sich als „Psychiatrie-Aktivistin“. Sie versuche, bei Betroffenen die Angst zu nehmen und ihre Botschaft unters Volk zu bringen. „Die Welträtsel werden weder ich noch meine Stimme lösen“, meint sie. Es sei ihre Aufgabe, die Atmosphäre mit ihrer Stimme friedlich zu halten, Geduld mit sich selbst und ihrer Stimme sowie mit ihren Mitmenschen zu haben. Wenn sich jeder im Kleinen bemühe, könne die Atmosphäre auf der ganzen Welt verändert werden. „Vielleicht auch in der unsichtbaren“, scherzt sie in einem Nachsatz.

Seit Kurzem nennt Frau Mikus ihre Stimme, mit der sie nunmehr seit zwölf Jahren zusammen lebt, meist nicht mehr Adonis, sondern einfach „die Stimme“. Diese Namensänderung sei in der Phase sinnvoll geworden, als die Beziehung stagniert habe. Da sie ihrem treuen Begleiter jedoch nicht den ganzen Rang habe nehmen wollen, habe sie einen Grabstein gezeichnet, „Adonis“ darauf geschrieben und die Inschrift mit Röslein verziert – im antiken Mythos ließ Aphrodite, nachdem Adonis sein Leben durch einen wilden Eber verloren hatte, aus dem Blut seiner Wunden das blutrote Adonisröschen wachsen.

Zum Schluss meldet sich Adonis dann aber doch wieder persönlich zu Wort. Er sei zufrieden mit dem Gespräch, das sie gerade „mit einem höflichen jungen Mann“ geführt habe, übersetzt Frau Mikus. Was für ein Kompliment von dieser „unerhörten“ Stimme. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.03.2011)

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