Berichte aus Tokio: "Hatte zum ersten Mal echt Angst"

Women wait on the street after evacuating a building following an earthquake in Tokyo
Women wait on the street after evacuating a building following an earthquake in Tokyo(c) REUTERS (Kyodo)
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DiePresse.com hat Kontakt mit Österreichern in Tokio. Das Gas wurde abgedreht, Supermärkte sind leergeräumt. Die Wucht des Erdstoßes fegte die Menschen fast von den Füßen.

"Es geht alles drunter und drüber", berichtet Margret Hirsch. "Die Züge stehen, Massen an Leuten auf den Straßen, die zu Fuß heimgehen." Hirsch ist Japanologin, lebt im Tokioter Stadtteil Kichijouji und ist derzeit auf Jobsuche in Japan. DiePresse.com hat Kontakt mit der 26-Jährigen und anderen Österreichern in der japanischen Hauptstadt. Mit 8,9 nach Richter hat eines der schwersten Beben der Geschichte Japan durchgerüttelt. Ein Tsunami hat die Küstengebiete nahe des Epizentrums im Norden der Hauptinsel Honshu überflutet. Die Stärke des Bebens hat Hirsch überrascht, die sich bereits an kleinere Erdstöße gewöhnt hat. "Es hat langsam angefangen, wie normale Erdbeben, ist dann aber immer stärker geworden."

Matratze als Erdbebenschutz

Zum Zeitpunkt des Bebens befand sich Hirsch halbwegs in Sicherheit, in einem einstöckigen Wohnhaus. "Es ist winzig, es gibt hier nichts zum drunterkriechen", beschreibt sie die Situation. "Ich hab nicht gewusst, was ich machen soll." Im Endeffekt suchte sie unter einer Matratze Schutz - ein Erlebnis, über das Hirsch inzwischen lachen kann. Auf die Straße traut sie sich aber noch nicht so richtig. Die Regierung habe gewarnt, dass man in der Mitte von großen Straßen gehen soll. Es bestünde Gefahr, dass Teile von Häusern herabfallen, erzählt sie. Nach einer ersten Panik habe sich die Situation in Japans Hauptstadt wieder beruhigt. Immer wieder heulen aber Sirenen auf, ein Helikopter kreist in der Nähe ihres Hauses.

Fast von den Füßen gefegt

Auch Rainer (Name von der Redaktion geändert) wurde wortwörtlich auf dem falschen Fuß erwischt. "Das war das erste Mal, dass ich bei einem Erdbeben echt Angst hatte", berichtet er. Er war gerade zu Fuß in Harajuku, einer der größten Einkaufsstraßen Tokios, unterwegs. "Kurzzeitig konnte man kaum stehen." Er habe versucht, sich so weit wie möglich von hohen Gebäuden fernzuhalten. "Ich bin dann zu Fuß heimgelaufen", sagt Rainer. Den für ihn, der sonst U-Bahn fährt, unbekannten Weg bahnte er sich mit seinem iPhone und Google Maps. "Am Weg heim sah ich einige Risse im Boden, zertrümmerte Fenster, Scherben auf der Straße, einen kleinen Erdrutsch", sprudelt es aus ihm heraus.

Kompletter Stillstand

Die verwüstete Küche
Die verwüstete Küche(c) Pia Paßecker

"Ich konnte einige Gebäude, Bäume, Lampen wackeln sehen", beschreibt Pia Paßecker das Erdbeben. Sie war gerade in einem Coffee Shop, als es begann. "Die Lampen über uns wackelten sehr stark", sagt die 27-Jährige gebürtige Tullnerin. Sie und die anderen Kunden rannten auf die Straße. Ihr Freund, der sich gerade in der gemeinsamen Wohnung befand, konnte wegen der Wucht des Bebens nicht mehr stehen. Die ganze Einrichtung wurde durcheinander geworfen, wie eine Aufnahme aus der Küche der beiden zeigt. "Ich bin dann zweieinhalb Stunden zu Fuß heimgelaufen", berichtet Paßecker. Unterwegs sah sie kompletten Stillstand. "Autos liegen im Stau, die Leute gehen zu Fuß nach Hause, die Busse sind überfüllt."

"Ich habe gezittert"

"Zuerst dachte ich, jemand wäre an meinen Tisch angestoßen", erzählt Karin Aue von dem Moment, als die Erdstöße begannen. "Nur ein Beben", sagte ihre Tischnachbarin fast beiläufig, als sie ihren verwirrten Blick bemerkte. Wenig später war die Japanerin nicht mehr so locker: "Das macht mir Angst... es dauert länger als sonst." Erste Dinge fielen zu Boden, Unruhe machte sich breit. Aue eilte nach draußen, wo Menschen wie wild in ihre Handys tippten. "Alle waren extrem ruhig und gefasst - außer mir, ich habe gezittert", sagt die Illustratorin des "Presse"-Schaufensters, die mehrere Wochen auf Besuch in Japan ist. Als sie sich beruhigt hatte, fuhr sie mit dem Rad heim. Vorbei an Menschenmassen, die sich vor Taxistandplätzen bildeten. Alle Züge standen still und "ohne Züge kommt man hier nirgends hin", berichtet Aue.

Stundenlang von Verlobter abgeschnitten

Sascha Kwetina hat das Erdbeben in seiner Wohnung erlebt, die er mit seiner japanischen Verlobten teilt. "Zuerst war ich nicht wirklich besorgt, aber dann fielen die ersten Bücher aus dem Regal", berichtet er. "Ich wollte so schnell wie möglich aus der Wohnung." Mehr Sorgen um sich selbst machte er sich aber um seine Verlobte. Es dauerte Stunden, bis sie endlich mit einander telefonieren konnten. "Ihr und ihrer Familie geht es gut", sagt Kwetina. "Gott sei Dank!" Das Erlebnis hat der 23-jährige Linzer noch nicht so richtig verarbeitet. "Im Moment hab ich nicht ganz realisiert, wie gefährlich es war", gibt er zu.

Handynetz bricht zusammen

Die Kontaktaufnahme zu Freunden fällt schwierig. Das Handynetz bricht immer wieder zusammen. Höchstens per Festnetzleitungen kommen Gespräche zustande und können E-Mails weitergeleitet werden. "Die Leute haben per Twitter die Rettung gerufen", berichtet Rainer über die Verzweiflung einiger Bewohner. Paßecker berichtet, dass statt der Handys öffentliche Fernsprecher genutzt werden. "20 Meter lange Menschenschlangen stehen teilweise vor den Telefonzellen."

Besorgte Japaner warten auf frei werdende Telefonzellen.
Besorgte Japaner warten auf frei werdende Telefonzellen.(c) Reuters (Yomiuri)

Supermärkte ausgeräumt

Für die in Tokio lebenden Österreicher ergeben sich aus dem Erdbeben zwei Probleme. Derzeit herrscht Winter und es geht ein eisiger Wind. Aus Sicherheitsgründen wurde aber das Gas in einigen Stadtteilen abgedreht. Feuer dürften noch dazu keine gemacht werden, da sie sich bei einem Nachbeben ausbreiten könnten. Warmes Essen kochen fällt damit aus. Also bleiben nur Fertiggerichte. Die Supermärkte sind aber leergefegt von hungrigen Einwohnern. "Es gibt nur noch Süßigkeiten und Instant-Nudeln", berichtet Hirsch, die uns ein Foto der leeren Regale zuschickte. Unterdessen würde die Erde immer noch wackeln, sagen alle Österreicher. "Man merkt es aber nur, wenn man ruhig sitzt", sagt Hirsch. Rainer erzählt, dass man die Nachbeben gar nicht spüre, wenn man sich bewegt. "Alle 30 Minuten ungefähr vibriert die Erde", berichtet auch Kwetina.

(c) Margret Hirsch

Keine Lust auf Wiederholung

Zurück bleibt für alle ein Erlebnis, das sie so schnell nicht vergessen werden. "Es war ein komisches Gefühl in den Füßen", beschreibt Paßecker. Für sie und Aue war es das erste Erdbeben überhaupt. Für Kwetina war es "so in der Art" eine Geschichte, die er seinen Enkeln noch erzählen wird können. Auf eine Wiederholung hat Aue aber zum Beispiel keine Lust mehr: "Nach diesem Erlebnis kann ich durchaus auf ein weiteres verzichten."

(mifi/db)

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