"Presse"-Reporter: "Grenzen individueller Freiheit"

PresseReporter Grenzen individueller Freiheit
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"Presse"-Reporter Stefan Riecher ist auf dem Weg zurück nach Europa. In Erinnerung wird ihm vor allem das Obrigkeitsgefühl der Japaner bleiben.

Donnerstag, 6.39 Uhr MEZ: Für mich ist der Aufenthalt im Gefahrengebiet zumindest vorübergehed vorbei, in ein paar Stunden fliege ich von Seoul zurück nach Europa. Für Millionen Japaner wird die Sache leider noch lange nicht vorbei sein. Hoffen wir auf das Beste, darauf dass die Lage noch irgendwie unter Kontrolle gebracht werden kann.

In Erinnerung wird mir vor allem das Obrigkeitsgefühl der Japaner bleiben. Es ist bemerkenswert, dass an Autoritäten nicht im Geringsten gezweifelt wird. Selbst wenn der Rest der Welt davonläuft, bleiben die Japaner brav in ihren Häusern sitzen, solange sie nicht evakuiert werden. In den Hotels rund um Fukushima lächelt das Personal nach wie vor freundlich, über eine mögliche Katastrophe will (oder darf) es nicht sprechen. Vielleicht ist das gut so, weil eine Massenpanik vermieden wird. Doch beunruhigend sind die Grenzen der individuellen Freiheit in diesem Land allemal.

Danke an die Leser meiner Einträge. Ich hoffe, die eine oder andere interessante Information, zusätzlich zu den Berichten in der Print- und Onlineausgabe der "Presse", überbracht zu haben.

Mittwoch, 5.43 Uhr MEZ: Die Reise nach Aomori war wegen des starken Schneefalls mehr als abenteuerlich. Pech kam auch noch dazu: Ein nicht von uns verschuldeter Unfall raubte uns den letzten Nerv. Die Polizei brauchte vier (!) Stunden bei Minus 5 grad, um im Freien alle Dokumente auszufüllen. Decken oder Jacken wurden uns nicht angeboten, geschweige denn Tee oder Kaffee. Alle Erklärungen, dass wir gerne schneller weiterkommen wollen, halfen nichts. Völlig durchfroren haben wir um fünf Uhr morgens zum Glück ein Taxi ergattert, dass uns die letzten 60 Kilometer nach Aomori brachte.

Hier warte ich nun am Flughafen und hebe hoffentlich in einer Stunde in Richtung Seoul ab. Mein Vertrauen in die japanische Regierung habe ich verloren. Wenn internationale Experten eine Horrormeldung nach der nächsten ausschicken und die japanischen Medien immer noch von einer beschränkten Gefahr sprechen, ist es wohl Zeit, sich zu verabschieden. Das tut mir zwar leid, weil ich noch gerne länger von den chaotischen Zuständen hier berichtet hätte. Aber zu viel möchte ich auch nicht riskieren.

Am Flughafen in Aomori versuchen vor allem Ausländer, die Flucht zu ergreifen, unter ihnen auch viele Journalisten. In den Warteschlangen finden sich mehr Europäer und Amerikaner als Japaner. Viele Japaner folgen wahrscheinlich immer noch den Anweisungen der Regierung, ihre Häuser nicht zu verlassen. Ich melde mich hoffentlich heute nochmals aus Seoul.

Dienstag, 16.31 Uhr MEZ: Ich bin per Auto in Richtung Norden unterwegs. Wir wollen noch heute Nacht möglichst weit weg von Fukushima kommen. Aktuell fahren wir nördlich von Morioka, gut 300 Kilometer Luftlinie vom Kraftwerk entfernt. Die Straßen sind menschenleer, alles ist geschlossen. Die Menschen trauen sich auch hier nicht mehr aus ihren Häusern, obwohl der Regierung zufolge im Norden wenig zu befürchten ist.

Man wird das Gefühl nicht los, dass den Verantwortlichen nicht mehr zu trauen ist. Vielleicht versuchen sie tatsächlich nur zu beruhigen, um eine Massenpanik zu vermeiden. Im Idealfall erreiche ich noch in der Nacht Aomori, eine größere Stadt mit Flughafen. Dort werden wir weitersehen.

Dienstag, 06.47 Uhr: Das Ausmaß des Tsunamis ist schlimmer als ich von bisherigen Berichten erwartet habe. Ich bin in der Hafenstadt Rikuzen-Takata, etwa 80 Kilometer nördlich von Sendai. Hier läuft das Meer zu einer großen Bucht zusammen. Bis etwa drei Kilometer ins Landesinnere ist alles völlig zerstört. Boote, Autos, Lkw liegen plattgedrückt in der Gegend herum. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle Häuser zerstört. Am Straßenrand wurden hunderte Leichen abgelegt.
Der Einsatzleiter bestätigt mir 160 Tote in Rikuzen-Takata. Doch alleine am Straßenrand liegen mehr. Die Einwohnerzahl der völlig zerstörten Hafenstadt beträgt 23.000. Nur das Frühwarnsystem könnte einen Großteil von ihnen gerettet haben.

Dienstag, 00.15 Uhr MEZ: Mittlerweile bin ich in Ichinoseki angekommen, eine kleine Stadt zirka eine Stunde nördlich von Sendai, 30 Kilometer im Landesinneren. Gas und Strom werden hier immer wieder abgedreht. Die Hotels sind völlig überfüllt mit Menschen, die von der Küste die Flucht ergriffen haben. Pro Zimmer werden deshalb sechs Personen oder mehr untergebracht. Auch wir schlafen zu sechst in einem kleinen Raum, auf Matten am Boden.

Nun machen wir uns auf den Weg an die Küste. Von der Gegend im Norden gibt es bis jetzt relativ wenige Informationen, die Zerstörung soll enorm sein.

Montag, 16.30 Uhr MEZ: Auch ich habe mich von den Herren mit dem Geigerzähler untersuchen lassen. Die Inkompetenz ist bemerkenswert, trauen kann ich den japanischen Behörden nun nicht mehr. Eine französische Kollegin und ich seien positiv, also mit Strahlen versehen, hieß es zunächst. Zwei weitere Franzosen, bei denen ein anderer Geigerzähler verwendet wurde, wurden negativ getestet. Blöd nur, dass die positiv gestestete Kollegin erst heute aus Tokio gekommen ist und noch nicht in der Nähe des Atomkraftwerks war. Und dass ich mit den beiden negativ getesteten Kollegen stets zusammen war, ein unterschiedliches Ergebnis also zumindest überraschend ist. Auf Nachfrage und Bitte um Erklärung hüllen sich die Männer in Schweigen. Ich bitte sie, den Test zu wiederholen. Gut so, denn nun ändern sie ihre Meinung. Kein Grund zur Sorge, ich sei doch nicht verstrahlt. Was jetzt, erlaube ich mir nachzufragen. Eine vernünftige Erklärung erhalte ich nicht.

Jetzt bin ich Richtung Norden unterwegs, wir möchten noch in der Nacht zumindest 200 Kilometer von dem Kraftwerk wegkommen.

Montag, 5.33 Uhr MEZ: Bedenkliche Nachrichten aus Aizu-Wakamatsu, einer Stadt eine Autstunde westlich von Fukushima. Bin in einem provisorisch eingerichteten Zentrum, wo die Leute auf ionisierende Strahlen getestet werden. Mit Bleimäntel geschütztes Personal testet verunsicherte Bürger. 

Viele wohnten innhalb einer Distanz von 30 Kilometer des Kraftwerkes Fukushima. Sie wurden vorgestern evakuiert und nach Aizu-Wakamatsu gebracht. Bei ihnen allen schlägt der Geigerzähler aus. Die Tests haben gerade erst begonnen, hunderte Leute warten in der Schlange. Im Hintergrund errichten Freiwillige hektisch weiße Zelte. Dorthin werden die positiv Getesteten zu weiteren Untersuchungen gebracht.

Montag, 1:10 Uhr MEZ: An Schlaf ist kaum zu denken, die Erde bebt nahezu im Minutentakt. Alleine in den vergangenen acht Stunden habe ich drei starke und dutzende leichte Nachbeben gespürt. Die Japaner nehmen viele davon kaum noch zur Kenntnis, doch ist man das ständige Beben nicht gewöhnt, geht das an die Substanz. Außer der Sorge um dem nuklearen Gau wird jene eines neuerlichen sehr starken Bebens immer größer. Der Warnzentrale zufolge besteht eine "70-prozentige Möglichkeit eines Bebens von 7.0 oder stärker innerhalb der nächsten zwei Tage."

Ich werde mich nun nach Norden aufmachen, in die Hafenstadt Sendai. Hoffentlich. Denn unser Tank ist nahezu leer und Benzin ist kaum zu bekommen. Irgendwo werden wir schon eine offene Tankstelle finden. Melde mich später wieder, hoffentlich aus Sendai.

Sonntag, 12.46 Uhr MEZ: Starkes Nachbeben! Befinde mich westlich von Fukushima, die Erde hat für mindestens 20 Sekunden gebebt, vielleicht auch länger. Ich bin im achten Stock eines Hochhauses, dieses Gefühl der Ohnmacht ist furchtbar. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als auf den japanischen Hochbau zu vertrauen und sich unter einem Tisch zu verkriechen. 20 Sekunden dauern dann eine Ewigkeit.

Sonntag, 12.24 Uhr MEZ: "Hier in der Stadt besteht überhaupt keine Gefahr", meint Masato Abe, Sprecher der Einsatzleitung in Fukushima, im Gespräch mit der "Presse". Zwar seien radioaktive Stoffe ausgetreten, allerdings betreffe das bloß die evakuierten Gebiete im Umkreis des Atomkraftwerks (20 Kilometer Radius, die Großstadt ist rund 45 Kilometer entfernt). Zumindest, dass es sich um einen "Notfall" handelt, bestätigt Abe schließlich zögerlich. Und auch, dass sich die Situation jederzeit ändern könnte, lässt er sich aus der Nase ziehen.

Ganz unbesorgt dürfte die Exekutive in Fukushima jedenfalls nicht sein. Die Einsatzwagen rasen pausenlos durch die Stadt. Mit Lautsprechern verkünden die Beamten, dass die Menschen ihre Kleidung nicht im Freien aufhängen sollen und die Fenster geschlossen halten müssen. Ich werde nun Richtung Westen fahren und die Nacht mindestens eine Autostunde entfernt von Fukushima verbringen.

Sonntag, 6.30 Uhr MEZ: Ausnahmezustand in Fukushima. Bin soeben angekommen. Die Straßen der Großstadt sind leergefegt. Nur vor einer offenen Tankstelle im Westen der Stadt spielt es sich ab. Eine zwei Kilometer lange Autoschlange hat sich gebildet. Der zweite Ort, wo sich die Menschen tummeln, ist ein offenes Heimwerksgeschäft namens Cainz Home. Dort verkauft ein Händler Heizöl. Zirka tausend Menschen warten geduldig mit leeren Kanistern in ihren Händen.

Von einem Exodus der Leute würde ich nicht sprechen, im Gegenteil: Es herrscht gespenstische Stille. Der Nachrichtenfluss aus dem 60 Kilometer außerhalb der Stadt liegenden Atomkraftwerk ist unklar. Das Telefonnetz bricht immer wieder zusammen. Die Leute sprechen von einer möglichen Kernschmelze. Mir ist es unmöglich, das zu bestätigen oder zu dementieren. Katastrophentrupps des Militärs fahren durch die Stadt. Darauf angesprochen, was los ist, erklärt der Fahrer eines Militärlastwagens: "Ich darf überhaupt nichts sagen."

Sonntag, 3.30 Uhr MEZ: Ich befinde mich 50 Kilometer südwestlich von Fukushima. Am Hauptverkehrsweg von Tokio nach Fukushima, der Route 4, steht in beiden Richtungen alles still. Nachdem wir in zwei Stunden nur ein paar Kilometer weitergekommen sind, versuchen wir unser Glück nun in den Gebirgsstraßen in der Landesmitte. Hier läuft der Verkehr besser, doch sind viele Straßen voller Risse - eine Folge des Erdbebens.

Die meisten Tankstellen sind geschlossen, weil der Benzin ausgegangen ist. Vor den wenig offenen stauen sich die Autos mehrere hundert Meter – Wartezeit 30 Minuten oder mehr. Die Supermärkte sind leergefegt, Brot und Wasser sind nicht zu bekommen. Bloß alte Chips und ein paar Süßigkeiten liegen einsam herum.

Samstag, 17.15 Uhr MEZ: Entwarnung nach der Bebenwarnung. Ich verbringe die Nacht in Utsunomiya, das liegt in etwa auf halbem Weg zwischen Tokio und Fukushima. Nachbeben sind immer wieder zu spüren, bislang allerdings in dieser Gegend eher leichte. Ein Hotel zu finden war schwieriger als erwartet, fast alles ist ausgebucht. Viele Japaner fühlen sich derzeit in Hotels sicherer als zu Hause, erklären die Portiere.

Spätestens morgen früh sollte ich Fukushima erreichen, dort möchte ich ein Notlager für Evakuierte besuchen. Wie berichtet, wurden alle Häuser im Umkreis des Atomkraftwerkes geräumt. Danach planen wir nach Sendai beziehungsweise Matsushima weiterzufahren, wo ganze Landstriche vom Tsunami weggespült wurden und nach  neuestem Stand zumindest 10.000 Menschen vermisst werden.

Samstag, 14.29 Uhr MEZ:  Soeben hat mein japanisches Handy vibriert. Eine SMS. Inhalt ist eine Erdbebenwarnung für die Region Fukushima. Unser Begleiter, der japanisch spricht, übersetzt: "Notfallbenachrichtigung, ein Erdbeben wird sehr bald in Fukushima oder Umgebung passieren. Bereiten Sie sich vor. Seien Sie vorsichtig."

Das muss kein riesiges Erdbeben sein, das kommt. Die Mobilfunkanbieter senden solche Warnungen öfters aus. Auch vorgestern, im ganzen Land, 10 Minuten bevor das Beben der Stärke 8,9 das Land erschütterte.

Mal sehen, was nun passiert. Ein starkes Erdbeben könnte gerade Fukushima wirklich nicht gebrauchen.

Samstag 11.06 Uhr MEZ: Die Stimmung in Tokio ist eigenartig. Alles steht still. Nur am Bahnhof Uedo drängen sich tausende Menschen vor der Information, die Polizei hat Schwierigkeiten, die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Einige wenige U-Bahn-Linien fahren, alle Fernzüge stehen still.

Doch das ist die geringste Sorge der Leute: Mit offenem Mund stehen sie in einem Kaffeehaus gegenüber des Bahnhofs. Im Fernsehen sind Bilder aus Fukushima zu sehen. Das Atomkraftwerk etwa 250 Kilometer nördlich von Tokio brennt. Die Angst vor der nuklearen Katastrophe dominiert jene vor Erdbeben oder Tsunamis. Wir versuchen in Richtung Norden aufzubrechen, in bislang drei Stunden konnten wir maximal zehn Kilometer absolvieren. Die Verkehrslage ist aussichtslos.

Samstag, 5.27 Uhr MEZ: Bin in Tokio angekommen, beim Landeanflug waren einige Großbrände klar erkennbar, nördlich der Stadt. Am Flughafen Narita, 60 km außerhalb Tokios, herrscht Chaos pur, weil immer noch keine Züge in die Stadt fahren. Die Menschen sitzen am Flughafen seit gestern fest, Schlafsäcke wurden ausgeteilt. Keiner kann sagen, wann die Züge wieder fahren. Taxis sind schwer zu bekommen. Ich mache mich nun mit zwei französischen Kollegen auf den Weg ins Katastrophengebiet, ein Fahrer sollte uns in Kürze abholen. Wenn alles gut geht, sind wir in ein paar Stunden in Fukushima, in der Nähe des Epizentrums und der überfluteten Gebiete.

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