Reporter in Japan: Keine Züge, keine Flüge, Chaos pur

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Tausende Menschen sitzen auf Flughäfen und Bahnhöfen fest, auch der Straßenverkehr in Tokio ist zum Erliegengekommen. Zumindest 1400 Menschenleben dürften das Erdbeben und der Tsunami im Nordosten Japans gefordert haben.

Mehr als 2000 Menschen drängen sich vor dem kleinen Informationsschalter. Die zwei zierlichen Beamtinnen mit ihren dunklen Uniformen sind überfordert. Viele Menschen brüllen laut durcheinander. Auf dem Bahnhof Uedo im Norden Tokios ist Chaos ausgebrochen. Sämtliche Fernstreckenzüge stehen still. Es ist ein völlig ungewohntes Bild, das sich in Japans Hauptstadt am Tag nach dem bisher schwersten Erdbeben der Geschichte des Landes bietet. Die sonst so ruhig handelnden Japaner sind verunsichert, besorgt, gar wütend.

„Meine Familie lebt 20 Kilometer nördlich von Fukushima, die Telefone funktionieren nicht, ich habe keinen Kontakt zu ihnen“, sagt eine etwa 40-jährige Frau. Sie sitzt in einem Starbucks-Kaffeehaus nahe des Bahnhofs. „Ich weiß nicht, was los ist. Ich habe einfach nur riesige Angst.“ Am Samstagabend hat die Regierung den Raum rund um das Atomkraftwerk Fukushima, 300 Kilometer von der Millionenstadt Tokio entfernt, evakuiert. Der Radius der Evakuierungen wurde von zunächst zehn auf 20 Kilometer ausgeweitet. Ob ihre Familie ebenfalls die Bleibe räumen musste, weiß die in Tokio wartende Angehörige nicht. „Von den Behörden Informationen zu bekommen, ist unmöglich“, erklärt sie.

Tatsächlich scheint die japanische Regierung wichtige Informationen lange zurückgehalten zu haben. Während internationale Medien schon längst von einer Explosion im Kernkraftwerk Fukushima berichteten, gab sich die japanische Regierung sehr vage. Erst am Abend bestätigte die Führung den Zwischenfall. Doch über mögliche Folgen will man öffentlich immer noch nicht sprechen. Die Unsicherheit dominiert.

„Ich wollte heute nach Fukushima fliegen“, sagt Okajima Fuiko. Der junge Mann liegt auf einem Schlafsack in der Wartehalle des Flughafens Narita. Er ist einer von vielen, die Hilfsmannschaften haben auf dem größten Flughafen Japans zumindest 2000 Schlafsäcke für ebenso viele Gestrandete ausgeteilt.


Zugsystem ausgefallen. Alle Flüge nach Fukushima und in die überflutete Großstadt Sendai wurden storniert. An eine Rückkehr vom Flughafen ins Zentrum Tokios ist nicht zu denken. Die Züge stehen still, der Verkehr ist völlig zum Erliegen gekommen. Auf dem Highway 6, er führt von Osten ins Zentrum der Stadt, steht eine mehr als zehn Kilometer lange Blechlawine. Kommt das sonst so gut ausgebaute Zugsystem zum Erliegen, herrscht Chaos pur. Die Straßen können die Menschenmassen bei Weitem nicht aufnehmen.

Zumindest 1400 Menschenleben dürften das Erdbeben und der Tsunami im Nordosten Japans gefordert haben. Die Hilfsmannschaften treffen erst langsam im Katastrophengebiet ein. „Wir wollen schnellstmöglich helfen, aber wir wissen nicht, wie wir in den Norden kommen“, sagt Zach Obrovdik. Er ist einer von fünf auf Überflutungen spezialisierten Helfern aus Neuseeland, die in Tokio auf dem Flughafen warten. Eine Luftbrücke Richtung Norden gab es für die Hilfskräfte zumindest Samstagabend noch nicht. Auf dem Bahnhof Uedo hat die Polizei die Lage mittlerweile halbwegs unter Kontrolle.

Vor dem Haupteingang positionierten sich fünf Streifenwagen mit Lautsprechern auf den Dächern. Durchsagen, wonach die Station geschlossen sei, sollen weitere Leute davon abhalten, ins Innere zu strömen. Dort harren immer noch Hunderte vor dem Informationsschalter aus. Erfolgreich werden sie an diesem Samstagabend nicht mehr sein. Die zwei zierlichen Beamtinnen haben ihre Plätze hinter den Glasscheiben geräumt und sind nach Hause gegangen. „Heute“, erklärt der Polizist beim Eingang, „funktioniert hier nichts mehr.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.03.2011)

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