Areal um Fukushima verstrahlt: „Ja, Sie sind verseucht"

Radioaktiv verseucht Japan
Radioaktiv verseucht Japan(c) EPA (Str)
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Ausgesiedelte werden auf ionisierende Strahlung untersucht: Bei jedem, der aus der Umgebung des AKW Fukushima stammt, schlägt der Geigerzähler an.

Mit besorgter Miene steht Fumio Morioaka vor dem Krankenhaus in der japanischen Stadt Aizu-Wakamatsu. Im Arm hält der junge Mann ein Baby, es ist weniger als ein Jahr alt. Morioaka hat mit seiner Familie vor zwei Tagen die Flucht aus seinem Haus ergriffen, nachdem die Regierung die erste Evakuierungswelle angeordnet hatte. Nun wartet er darauf, von Männern in Bleimänteln und Gesichtsmasken untersucht zu werden.

„Unser Heim ist exakt 23 Kilometer von dem Kraftwerk in Fukushima entfernt", erzählt Morioaka. In der Nacht auf Sonntag wurde die Jungfamilie evakuiert und in die gut 100 Kilometer Luftlinie entfernte Stadt Aizu-Wakamatsu gebracht. Gemeinsam mit vielen anderen Menschen wartet Morioaka nun darauf, mit einem Geigerzähler untersucht zu werden. Mit diesem technischen Gerät kann eine mögliche ionisierende Strahlung gemessen werden.

Behörden geben keine Auskunft

Morioaka ist guter Dinge, schließlich habe er alle Anweisungen der hohen Politiker befolgt und sein Haus geräumt, als im Atomkraftwerk Fukushima der Wettlauf gegen den Super-GAU begann. „Ich vertraue darauf, dass alles in Ordnung ist", sagt der Mann. Seine Ehefrau ist nicht so sicher, verängstigt klammert sie sich am Arm Morioakas fest. „Hoffentlich sind wir nicht verseucht."

„Okay, Sie sind die nächsten", erklärt der groß gewachsene Mann mit dem Geigerzähler in der Hand. Er trägt einen langen weißen Umhang, darüber hängt ein dicker Bleimantel, der vom Hals bis zur Hüfte reicht. Sein Kollege neben ihm ist ebenfalls mit einem Bleischutz ausgestattet. Damit wollen sich die Mediziner vor einer möglichen Ansteckung schützen. Wer zu lange mit Menschen zu tun hat, deren Körper mit ionisierenden Strahlen stark verseucht ist, kann ebenfalls verstrahlt werden.

Morioaka hält nun seinen kleinen Sohn mit ausgestreckten Händen vor sich, während die Mutter die Arme des Babys hochhält. Knapp zwei Minuten dauert es, ehe der Geigerzähler über den ganzen Körper des Kleinkindes geglitten ist. Das Kind weiß nicht, was mit ihm passiert, lächelt dem verkleideten Mann aus Blei fröhlich ins Gesicht. Danach kommen die Mutter und der Vater dran, nach insgesamt fünf Minuten ist die Sache vorbei.

"Ja, Sie sind verseucht"

Etwas später weiß Familie Morioaka, was es geschlagen hat: „Ja, Sie sind verseucht", sagt ein herbeigerufener Arzt mit ernster Stimme. Die Werte seien eindeutig überhöht, Genaueres könne man derzeit aber nicht sagen. „Das Gerät gibt keine exakte Auskunft, sagt bloß, ob alles in Ordnung ist oder nicht." Von dieser Meinung lässt sich der Mediziner auch nicht durch den Hinweis abbringen, dass der Geigerzähler eine eindeutige Skala und einen Pfeil aufweise. „Tut mir leid, mehr kann ich wirklich nicht sagen."

Fumio Morioaka trägt das ernüchternde Resultat mit Fassung. Starr blickt der Ehemann in die Luft, als er seine weinende Ehefrau in den Arm nimmt. Auch das Baby beginnt nun zu schluchzen. Der herbeigerufene Arzt klärt die Familie über die Vorgehensweise auf. „Wir werden in Kürze weitere Untersuchungen durchführen. Warten Sie hier", sagt der etwa 40-jährige Mann mit eiserner Miene.

Die Morioakas leisten Folge und warten vor dem auf dem Parkplatz des Krankenhauses eingerichteten Testzentrum. Ob in dem angrenzenden Zelt tatsächlich weitere Untersuchungen folgen oder ob es sich gar um eine Maßnahme zur Isolation handelt, wollen die anwesenden Beamten und Ärzte nicht erklären. „Wir können derzeit wirklich nicht mehr sagen", heißt es auf Nachfrage.

Teststationen mit Geigerzählern

Es ist genau dieses Fehlen an Informationen, das den Japanern große Sorge macht. Egal ob in Fukushima selbst oder in einer der nahe gelegenen Städte: Die Menschen beschweren sich, nichts Genaueres zu erfahren. Per TV und Radio versucht die Regierung zu beruhigen. Man habe alles unter Kontrolle, heißt es immer wieder. Das wirkt besonders in der Stadt Fukushima unglaubwürdig. Während aus dem Radio beruhigende Worte schallen, rasen Einsatzwagen durch die 300.000 Einwohner zählende Stadt: „Öffnen Sie keine Fenster", wird per Lautsprecher verkündet.

Außer der Jungfamilie Morioaka werden an diesem Montagmorgen in Aizu-Wakamatsu etwa 500 weitere Personen mit dem Geigerzähler untersucht. Das Resultat ist immer das gleiche: All jene, die sich am Samstag im Umkreis von 30 Kilometern um das Atomkraftwerk aufgehalten haben, weisen eine ionisierende Strahlung auf. Insgesamt transferierte die japanische Regierung mehr als 200.000 Menschen. Überall im Großraum Fukushima wurden bereits Teststationen mit Geigerzählern eingerichtet.

„Ich habe keine Ahnung, was das nun für uns bedeutet", sagt der Familienvater Fumio Morioaka, während ihn die Mediziner zu weiteren Untersuchungen in das 20 Meter lange weiße Zelt bringen. „Aber hoffentlich ist es nicht so schlimm." Morioakas Ehefrau an seiner Seite schluchzt, das Baby ist in den Armen des Vaters eingeschlafen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.03.2011)

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