Allee der Asylanten

Sie standen etliche Kriege und Umbrüche durch und waren doch, trotz ihres ehrwürdigen Alters, in den Augen der Dorfbewohner Fremde geblieben. Mir raunten sie von einer fernen Welt. Die Maulbeerbäume am Dorfrand: eine Erinnerung.

Gestützt auf ihren kaiserlichen Ehegatten und Mitregenten, ist es Maria Theresia gelungen, mehrere Kriege durchzufechten und zwischen diesen 16 Kindern das Leben zu schenken. Also Workaholic durch 40 Jahre Regentschaft. Innenpolitisch standen mehrere wichtige Reformen ins Haus, beispielsweise die Heeres- und Staatsreform, die Verwaltungsreform – und mit der verbunden die des Schulwesens. Eingebunden in die Pläne ihrer Agrarreformen in den Kronländern auch der Wunsch, das miserable deutschwestungarische Wegenetz zu verbessern, unter anderem sollte eine Straße von Ödenburg bis nach Landsee geführt werden. Tatsächlich ist dann ein Stück dieser neuen Verbindungsstraße entstanden und diese gleich auch mit dem damaligen „Modetrend“ geziert worden – mit jungen Maulbeerbäumen, als der Bau auch schon wieder zu stocken kam. Neue kriegerische Projekte sollen es gewesen sein, die die habsburgische Hauskasse geleert hatten bis auf den letzten Gulden. So wurde aus der geplanten Straße ein Weg, ein Schmalspurweg, ein Karren- und Leiterwagenweg, der ein paar Dörfer verband, ein sandiger Fußweg, der der Buckelkraxenträgerin ins Gesicht staubte oder ihr nach schweren Regengüssen die Schuhe auszog.

Durch diese Maulbeerbaumallee, die einige Jahrhunderte im trockenen Sandbett unserer Hutwaid ausgeharrt hat, ging ich als Kind unentwegt hin und her, fort und zurück, von einer Seite zur nächsten. Das ursprüngliche Ensemble von je 20 Bäumen war in meiner Kindheit vorhanden, bloß am Waldrand, bei Allee-Ende, streckten ein paar verdorrte Geschöpfe die Arme aus. Die Bäume waren mir wie ein Buch. Ein Buch, das Fragen aufwarf nach dem Woher und Wohin, nach dem anderen, nach dem Entfernten, nach dem Hier und Dort. Ein Buch mit mehr oder weniger faszinierenden Seiten. Da waren Baumseiten, die mich besonders anzogen, weniger, weil sie an die missglückten Seiten einer Monarchin denken ließen, sondern weil die Bäume von dort hergekommen waren, von wo das Licht herkommt: Ex oriente lux! Wie das klang! Ein Spruch wie ein Feuergesang, ein Gesang, der mich fortzog, fort, immer fort, aus dem Dorf fort durch die Allee.

An ihr stieß sich der ungestüme Frühlingswind die Hörner ab, sie hielt die pannonisch brütende Hitze ab, sie bot Orientierung, wenn die Fluren in dichten Nebelschwaden versanken. Diese duldsamen Geschöpfe hatten so manchen Winter, in Schneewechten eingefroren, überlebt und trockenen Frösten standgehalten, sie standen etliche Kriege und Umbrüche durch und waren doch, trotz ihres ehrwürdigen Alters, in den Augen der Dorfbewohner Fremde geblieben. Fremdlinge. Asylanten. Diese Asylanten müssen weg da. Nichtsnutze, stehen bloß herum! Verstellen die Sicht, verstellen nicht nur die Aussicht, verstellen auch die Ackerzufahrten! Zunächst fing man an, den Asylanten Äste und Wurzeln abzuhacken, auch jene, die nicht im Weg standen. Die Asylanten nahmen es hin.

Diese Asylanten berauschten mich, sie inspirierten mich, flüsterten, raunten mir ihre Herkunft: Aus dem fernen China stammten sie, lange vor Christi Geburt seien sie im Orient sesshaft gewesen, von dort nach hier sei es nicht weit. Ich streichelte ihre zerklüfteten Stämme, ich atmete und umschlang sie. Ihre Laubdächer waren übersät mit blassrosa Beeren, mit weißen, mit schwarzen. Die schmeckten wie nichts, vielleicht leer süß oder süßlich leer, doch ich aß, um den Asylanten näher zu sein, zog mich in ihre Kronen hinauf oder zog mir mit der Haue Äste herab. Ich aß, obwohl besonders die schwarzen sofort Zunge und Zähne, die Finger sowie den graslosen Sandboden darunter malerisch verfärbten – wie das auch die an mir ausrutschende Hand der Mutter tat, wenn sie von dem „grauslichen Beerendreck“ Flecke an meinen Kleidern entdeckte.

Dass die Blätter der „Asylanten“ den Seidenraupen und diese der Seidenherstellung dienen konnten, erfuhr ich, als ich das Dorf längst verlassen hatte, als diese duldsamen starken Exoten (nach brutalem Rückstutzen) zu Brennholz gemacht wurden. Desgleichen schlugen und hieben die Krampen ins lang gestreckte Mauerwerk ein um den altwestungarischen Baustil niederzureißen. Die langen Hosenstrumpfäcker hinter den Mauern wurden zu Großvierecken zusammengeackert. Lacken und Sumpfwiesen, auf die sich die Störche von halb Pannonien nebst fernöstlichem Gefieder niedergelassen hatten, wurden trockengelegt und mit scheußlichen Fabrikshallen bepflanzt.

Zweimal im Jahr, zu Ostern und zu Maria Himmelfahrt, wurden Jahrmärkte abgehalten. Während der aufkommende Modetrend Plastikgeschirr- und -kleidung bei unseren Müttern reißenden Absatz fand, stellten wir Kinder uns an beim Zuckerl- und Schaumgugelhupf-Stand, danach beim Met-Stand, bei dem es den steinharten Honig gab – einen Honig der Türken, einen, der mittels gezielter Hacker von einem Block sprang, danach zwischen den Zähnen steckte und zu hacken begann.

Dem stoisch ruhigen Lauf der Dinge, die um nichts als Tratsch dümpelten, ums Abverkaufsfleisch einer vom blindwütigen Bauern erschlagenen Kuh, um Kriegs- und Hexengeschichten, ums Kinderkriegen, um eheliche Seitensprünge und daraus hervorgehende Schandflecke, um Erhängte und scheintot Begrabene, Dorfstrukturen, die mir die Luft abschnitten, wurde durch diese kurzlebigen Jahrmarktsgeschichten eine gehörige Portion Frischluft zugeführt, die sich durch die tags darauf stattfindende Wallfahrt zur „Schwarzen Madonna“ nebst feierlichem Hochamt sogar in ein heißes Ostwehen versteigen konnte. Das war schon was, wenn zwischen gehügelten Äckern die Prozessionsleiber ins Dorf und ins Kirchenschiff gedriftet kamen, dampfend und Flaggen schwenkend. Und die Gesänge der Kroaten, die eben noch Klee und Kukuruz in Wallung gebracht hatten, verstiegen sich jetzt archaisch-terzig im Glockenturm. Das war schon was. War etwas anderes. Das schob Vorhänge weg. War ein Takt Ostkirche – ein Hauch Orient.

Und während der farbenfroh und präzise gezupften Tamburica-Ständchen flammte Kroatien auf, Griechenland, der Balkan. Das waren andere Töne als die oft schmerzlich verblasenen der landläufigen Dorfmusikkapellen. Das war etwas anderes, war dieses bereichernde andere: Meinen Asylanten habe ich viel zu verdanken. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2011)

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