Die Große Kammer des Straßburger Gerichtshofs stellt klar: Die Kreuze dürfen auch in Italiens Klassenzimmern hängen bleiben. Es liegt im Ermessen des Staates, Kreuze in Klassenzimmern anzubringen oder nicht.
Strassburg/Wien. Es war also doch kein böses Omen, dass die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) die Verkündung ihrer Entscheidung im Kruzifix-Streit ausgerechnet auf Freitag, 15 Uhr angesetzt hat: Die Kreuze dürfen auch in Italiens Klassenzimmern hängen bleiben, das Land verletzt damit nicht die Menschenrechte. Nur zwei Tage davor hatte der österreichische Verfassungsgerichtshof entschieden, dass Kreuze in Niederösterreichs Kindergärten nicht gegen die Verfassung verstoßen.
Just zur Stunde, als der Bibel nach Christus am Kreuz starb, begann der Straßburger Gerichtshof die öffentliche Verhandlung, in der er seine endgültige Entscheidung in einem der umstrittensten Verfahren der letzten Jahre bekannt gab. Soile Lautsi, in Italien verheiratete Finnin und Mutter zweier Söhne, hatte sich beschwert, dass die Knaben in einer staatlichen Mittelschule in Abano Terme unter Kruzifixen an der Wand unterrichtet werden. Sie wollte ihre Kinder nach dem Prinzip des Laizismus erzogen wissen. Tatsächlich verurteilte eine Kammer des EGMR im November 2009 Italien wegen Verstoßes gegen die Menschenrechtskonvention: Das Recht von Eltern, ihre Kinder nach ihren eigenen weltanschaulichen Überzeugungen zu erziehen, und die Religionsfreiheit seien verletzt. Das Urteil löste bei vielen Christen und anderen, die um die christlichen Wurzeln Europas wissen, einen Sturm der Entrüstung aus. Italien rief gegen das Urteil die Große Kammer des EGMR an.
Fünfzehn zu zwei Stimmen
Mit fünfzehn zu zwei Stimmen befand die letzte Instanz nun, dass es im Ermessen des Staates liege, das Anbringen von Kreuzen vorzuschreiben oder nicht, vorausgesetzt, dass damit keine Indoktrinierung der Schüler einhergeht. Der Gerichtshof sah es nicht als erwiesen an, dass das Zeichen an der Wand einen Einfluss auf die Kinder nimmt. Ein Kruzifix sei ein „durch und durch passives Symbol“, dessen Wirkung nicht mit jener des eigentlichen Unterrichts oder der Teilnahme an religiösen Aktivitäten vergleichbar sei.
Die Große Kammer distanzierte sich ausdrücklich von der Einschätzung der Unterinstanz, wonach das Kruzifix ein „mächtiges äußeres Symbol“ sei. Schließlich betonte sie noch, dass die Beschwerdeführerin selbst nicht gehindert worden sei, persönlich ihre Kinder nach ihren eigenen Überzeugungen zu erziehen. Auf die Religionsfreiheit ging der EGMR nach seinen Erörterungen zum Recht auf Bildung gar nicht mehr ein.
Italien und der Vatikan begrüßten als Erste das neue Urteil.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2011)