Religion ist Krieg

Es sind männliche Obsessionen, die während der vergangenen 5000 Jahre das bestimmt haben, was wir Religion nennen. Über Gewalt, Kindesmissbrauch und Gottesglauben.

Zuerst die schlechte Nachricht: Der – aus heutiger Sicht fragwürdige – Zusammenhang zwischen religiösen Institutionen und Gewaltbereitschaft ist kulturgeschichtlich seit dem Ende der letzten Eiszeit evident, und zwar im altertümlichen Opferwesen. Die gute Nachricht: Rituelle Menschenopfer sind mittlerweile abgeschafft. Ich darf mich begnügen, auf eine Untersuchung hinzuweisen, die das Thema bereits im Titel signalisiert: „Das Heilige und die Gewalt“, erstmals erschienen 1972, verfasst von dem Literaturwissenschaftler René Girard. Auf sein Thema war Girard bei der Lektüre der „Bakchen“ von Euripides gestoßen. In diesem Theaterstück fand Girard eine Atmosphäre der Halluzination und des Terrors, die er zur Grundlage seiner Religionstheorie machte.

Mittlerweile ist eine Menge passiert, nicht nur die Kardinalfehler des Erzbischofs Groër, unter anderem ist auch das kirchliche Internatswesen in die Schlagzeilen gekommen. Girard schrieb: „Das Religiöse ist nichts anderes als die ungeheure Anstrengung, den Frieden aufrechtzuerhalten. Das Sakrale ist die Gewalt, doch wenn das Religiöse die Gewalt verehrt, dann immer nur deshalb, weil es von ihr annimmt, dass sie den Frieden bringe. Aber die Wege zu diesem Frieden sind nicht von gewaltsamen Opferungen frei.“

Wozu der Mensch fähig ist

An Klostersuppen, Erstkommunionkinder oder Pfarrhofjausen lässt dieser schroffe Befund nicht unbedingt denken, auch nicht an die Caritas und die Mutter Teresa. Eher schon an den Schreckenstag des 11. September 2001 in New York, der im Namen Gottes ausgelöst wurde. Ein Jahr zuvor, im September 2000, hatte ich einen Vortrag am Philosophicum in Lech unter den Titel gestellt: Religion ist Krieg. Wer Religion sagt, sagt Militanz, meinte ich damals. Dabei berief ich mich auf Studien, die in jeder religionswissenschaftlichen Handbibliothek stehen, unter anderem auf die Abhandlung von Rudolf Otto, „Das Heilige“, die auch René Girard studiert hat.

Aber ich schweife ab. Girard hatte kollektive Ausnahmezustände im Auge, ähnlich wie unlängst in Tunesien, wenn schreiende Menschen ins Bild rücken, Tote auf der Straße liegen. Man muss zeigen, wozu der Mensch fähig ist, schrieb Girard und meinte damit die festlichen Menschenopfer als klassische religiöse Antwort auf chaotische Zustände, bis ein Erzpriester auftritt und für den nächsten Tag die feierliche Abschlachtung von hundert Kriegsgefangenen verkündet wie bei den Azteken.

Das war einmal, sagt der Hausverstand, aber Girard bleibt unbeeindruckt, denn er schreibt im Atomzeitalter. Die europäische Neuzeit hat das gewalttätige Heilige zwar entmythologisiert, so Girard, aber auf den Flügeln der Wissenschaft sei die absolute Rache am Feind als schrecklichste Drohung der Weltgeschichte über uns gekommen. Die Toten von Hiroshima seien als „stellvertretende Opfer“ aufzufassen. Für Girard sind nicht die Papua auf Neuguinea die Wilden, sondern die aufgeklärten Industriegesellschaften. Sie haben ein katastrophales Jahrhundert hinter sich, mit welthistorisch unerhörten Gewaltexzessen, im Vergleich zu denen selbst die bösartigsten Religionskriege der frühen Neuzeit wie ein Kinderspiel erscheinen. Was im 20.Jahrhundert passiert ist, besonders unter Stalin, Hitler und Mao Tse-tung, bedurfte keiner religiösen Legitimation. Lediglich Intellektuelle wie ich spüren in der Hitlerei vage Erinnerungen an religiöse Phantasmen aus biblischen Quellen wie zum Beispiel die Idee vom Tausendjährigen Reich. Ansonst sind die Weltreligionen machtpolitisch längst entbehrlich geworden. Die Charta der Menschenrechte kommt ohne Jenseitsbezüge aus – ebenso wie die Verfassungen Indiens oder Israels.

Oder Österreichs. Bei uns bestimmt der Staat, welche Religionsgemeinschaften Anerkennung verdienen, auch im Schulunterricht. Damit beginnen die Probleme. Denn die drei Abrahamsreligionen, also Judentum, Christentum und Islam, halten nach wie vor heilige Schriften in Ehren, deren prinzipielle Militanz in die Augen springt, wenn man genau hinschaut. Das dreimal wiederholte „Heilig!“ an zentraler Stelle in jüdischen und christlichen Gottesdiensten gilt einem obersten Kriegsherrn, der das Universum regiert. „In welcher Sprache immer sie erklingen“, schrieb der Theologe Rudolf Otto, „diese erhabensten Worte, die je von Menschenlippen gekommen sind, immer greifen sie in die tiefsten Gründe der Seele, aufregend und rührend mit mächtigem Schauer das Geheimnis des Überweltlichen, das dort unten schläft.“

Sehr lange schlief das Geheimnis nicht. Es erwachte während der Reichsparteitage der Nazis zu neuem Leben, was katholische und evangelische Religionslehrer nicht unbedingt glücklich machen dürfte, wenn sie im Geschichtsunterricht aufgepasst haben.

Es geht nicht mehr um Watschen

Ihre muslimischen Kollegen sind liturgisch deshalb im Vorteil, weil sie die erste Sure des Korans zur Hand haben, die alle Gottesdienste eröffnet. In diesen sieben Versen wird Gott als Erbarmer angerufen. Gleichwohl werden die muslimischen Kollegen in Schwierigkeiten geraten, wenn sie den vier rechtgeleiteten Kalifen der Frühzeit des Islam jegliche Militanz absprechen möchten. Mit ein paar Koranzitaten lässt sich die Geschichte der Ausbreitung ihrer Religion nicht entkräften. Was selbstkritische Muslime zur Zeit umtreibt, ist die Notwendigkeit eines Nachhilfeunterrichts in jener Form des Denkens, die in Europa mit Baruch de Spinoza definitiv einsetzte, im 17.Jahrhundert. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

Am Ende meiner Ausführungen steht ein Reizwort, das ich bislang vermieden habe: Sexualität. Es geht nicht mehr um Watschen im Religionsunterricht, die auch ich gelegentlich in Wien-Favoriten vor 50 Jahren ausgeteilt habe, sondern um gewalttätigen Sex im „Sakralbereich“, wie die Sache medizinisch benannt wird. „Hollabrunn ist überall“, schrieb ich 1995 im „Spiegel“ – mit Anspielung auf die Wirkungsstätte Kardinal Groërs. Damals war bereits bekannt, dass die katholische Kirche ab 1985 viele Millionen Dollar Schadenersatz für die Opfer sexuellen Missbrauchs von Kindern durch Priester zahlen musste. Jetzt brennt auch in Deutschland und Österreich der Hut.

Für mich gehört dieses traurige Kapitel in ein Endspiel mit ungewissem Ausgang, in dem die Männerwelt noch immer die Hauptrollen besetzt. Es sind männliche Obsessionen, die während der vergangenen 5000 Jahre das bestimmt haben, was wir Religion nennen. Mein Ausblick bleibt gleichwohl so zuversichtlich wie vor 20 Jahren, in meinem Buch „Im Keller des Heiligtums“: „Freundliche Lehrerinnen werden bereitwillig Auskunft erteilen, über das allwissende göttliche Auge und den Teufel in der Hölle, die bischöflichen Insignien und die Kronen der Könige, die Uniformen von Generälen, den Judenstern. Und das alles war für die Leute einmal wichtig, werden die Kinder fragen. Ja, sehr wichtig, wird die Lehrerin antworten.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2011)

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