Die Rettung

„Verachtung verdient allein diese Uniform, und du weißt das. Sie ist nichts mehr für dich, gar nichts. Aber wir sind da, ich bin da, und ich sehe nicht zu, wie du in den sicheren Tod gehst.“ Aus einem Roman in Arbeit.

Viktring bei Klagenfurt, Mai 1945: 12.000 junge Slowenen, von der Ideologie der Väter in die slowenische Heimwehr gelockt, am Kriegsende in die Obhut der britischen Besatzungsmacht geflüchtet, erwarten ihren Abtransport nach Italien. Doch die Briten verhandeln längst mit Tito... Fedjas Mutter, von schlimmen Ahnungen um ihre Söhne Alvin und Milovan getrieben, verfolgt den Treck der Domobranzen.


Die Mutter wählt den Pfad neben der Straße, wo schwere Gefährte blassgrüne Rillen in die Wiese gedrückt haben, wo Pferdedung eine Spur weist. Die Mutter geht, nicht schnell, mit lang ausholenden, wiegenden Schritten; ein gleichmäßiges Dahinziehen, das lange währen wird. Die Straße knickt nach links, die Spur der verwühlten Halme schwingt nach links, doch der Mutter Schritt zielt geradeaus, eine flache Böschung hinunter, zwischen Nessel- und Klettengewächs, die Hand schürzt den schweren Rock, hält einen Ballen Stoff als Knauf, das Ruder ihrer Schritte, das die Richtung zeigt: in die Senke; die Dornen zerren, geben schnalzend nach, andere fangen den Rock und schnellen fort. Drei Blutstropfen am Strumpf, wo eine Brombeerrute lange festgehalten hat.

Wieder bergan weist die Gerade. Die Straße kommt zu uns her, wendet sich mit uns, legt sich unter unsere Füße – und streckt sich, endlos gerade, in den blauen Dunst hinaus, Schritt für Schritt, Fuß vor Fuß, die Straße genommen-gehalten-hinter-sich-geschoben, bis zu einem flachen Einschnitt – und wo die Straße wieder ansteigt, dröhnt ein Lastwagen, hinter dem ge-
hen nickende Pferde, langsam. Wir in Schwaden aus Staub, an Pferdehintern vorbei, an Lastwagenblech; vom Hügelrücken sehen wir: Der Trainhat angehalten. Einweißes Pferd steht. Am Holm eines Bauernwagens festgebunden. DieMutter steigt hangabwärts, nicht schneller, nicht langsamer, etwas Unsichtbares klammert die Kolonne, wir kommen ihr näher, die Köpfe auf den Wägen werden größer, hier sind sie, die Gesichter von Milovan und Alvin.

Die Brüder springen von der Ladefläche herunter, die Münder offen zum gleichzeitigen Reden, da ruft einer vom Wagen: Vorsicht, Jeep! Die Mutter umarmt Milovan stumm, der lehnt schweigend den Kopf gegen den Mutter-Hals, seine Augen prüfen seitwärts den Hang, der Briten-Jeep kommt über die Wiese herauf, die Mutter spielt das Trennungsweh, küsst Milovans Wange, deckt Alvins Scheitel mit der Hand, spreizt den Daumen, malt ein Kreuz... das Recht einer Mutter auf Abschied von den Söhnen, letzte Berührung mit ihrem Kind, der Jeep stößt eine stinkende Wolke aus, gluckernd fährt er hangwärts fort. Ein Kind ist Alvin, ein Kind ist Milovan, Kinder müssen still sein, den Kopf senken, gehorchen.

„Ihr kommt sofort mit. Seht euch nicht um, holt nichts vom Wagen herunter. Geht einfach los.“ Die beiden starren. Der Sammelpunkt ihrer Blicke liegt irgendwo in der leeren Mitte hinter uns. Davon wollen sie sich nicht lösen. „Partisanen“, keucht die Mutter, „der Zug fährt nicht nach Italien. Im Rosental, wenn ihr verladen werdet, setzen sich Partisanen auf die Waggondächer, sie plombieren die Wagen, keiner kann mehr heraus – und der Zug schwenkt nach Süden, fährt durch den Karawankentunnel, geradewegs Richtung Ljubljana. Ihr müsst weg hier, sofort.“ Milovan sieht mit leeren Augen, das Gehörte ist nicht auf Gedanken gestoßen, die Begriffe werden irgendwo in seinem Hirnkasten sein, sollen hervorstoßen, und die Augen weiten im Schreck. Ich warte. Jetzt: Milovan schaut sich um, lenkt seine Sinne im Kreis, die Gedanken im Zickzack-Rösselsprung, der große Bruder. Der ältere Soldat oben auf dem Wagen schaut herunter, blickt wachsam. Die anderen sehen und hören nichts, die warten.

Milovans Gesicht, wieder zur Mutter gedreht, will sich zusammenziehen und klein werden. „Mutter, was tust du mir an!“ Sein Blick zieht weiter zu dem jüngeren Bruder, der zu seinem weißen Pferd gegangen ist, es am Zaum hält, seine Nüstern streichelt, die Wange tätschelt, an seinem Maul horcht. Die Hitze perlt Wasser über Milovans Haut. „Vor meinen Kameraden! Diese Männer sind unter meinem Schutz, der Kommandeur persönlich hat sie mir anvertraut, und du erwartest, dass ich vor ihren Augen sie im Stich lasse? Was du verlangst, ist Desertion! Sie verdient den Tod – und mehr als das, die Verachtung der anderen lang über den Tod hinaus.“ – „Verachtung verdient allein diese Uniform, und du weißt das. Sie ist nichts mehr für dich, gar nichts – aber wir sind da, ich bin da, und ich sehe nicht zu, wie du in den sicheren Tod gehst. Du tust es jetzt für mich.“

Der Mutter Blick ist hart auf die Mitte seines Gesichts gerichtet. Du-entgehst-mir-niemals-Kind. (Wir Brüder wissen das, gib nach, Milovan, je schneller, desto besser. Du Großer bist jetzt klein, schieb nicht die Schultern hin und her wie ein Ordensträger-lächerlich. Was ist schon Männerfreundschaft, überleben musst du, Liebling der Mutter, du. Schlüpfe zum Feld hinaus, schau dich nicht um, nicht zum Bruder hin, der sein Gesicht hinter den Nüstern des Pferdes versteckt, hierher zur Mutter komm.) „Ich rede mit meinem Kommandeur“, spricht Milovan und geht. Die Mutter wendet den Kopf in die Richtung, wo Milovan reden wird (für uns unsichtbar, für uns so wichtig).

Milovan kommt zurück, er keucht: „Der Kommandeur sagt, der Kleine darf gehen, ich muss bleiben, es wäre unerlaubte Entfernung von der Truppe. Deserteure würde er sofort erschießen.“ Knatternd fährt ein britischer Jeep herbei, die Räder halb auf der Straße, halb über dem Wiesenhang, es ist ein anderer als vorhin, kleiner und lauter, darin sitzt einer neben dem Fahrer mit steifen Schultern und Ordensspangen wie ein General; die Mutter mit zwei hüftenwiegenden Schritten stellt sich dem Kühler entgegen, dass der Wagen knirschend hält. „Herr Generalmajor Krenner!“ Ihre Stimme ist hoch und jung. „Lassen Sie diese meine beiden Söhne gehen, Sie brauchen sie nicht mehr.“ Weil sein Kopf über der Kühlerhaube höher ist als der ihre, schaut der Generalmajor herab (die Hand an der Haltestange, wie einer, der gleich den Stab heben und der Armee den Weg weisen wird). „Gute Frau, machen Sie Platz.“ – „Herr Major, Sie wissen genau, diese Männer fahren in den Tod. Zumindest ich weiß es genau, denn ich wohne mit der slowenischen Exilregierung und dem päpstlichen Nuntius in demselben Gasthof – wo alle Informationen zusammenkommen. Ich bin mir sicher, diese Männer hier sind unterwegs zu den Partisanen.“

Der Adjutant neben ihm lugt neugierig, die Ohren aufgestellt, lauscht er, beugt sich vor, um noch besser zu hören. Der Generalmajor, der tief Atem geholt hat, schreit: „Was Sie unterstellen, Frau, ist ungeheuerlich; unsere britischen Verbündeten so zu verunglimpfen! Unsere englischen Freunde würden so etwas niemals zulassen. Diese Männer fahren nach Italien. Und jetzt machen Sie Platz und kein weiteres Aufhebens; sonst muss ich Sie mit Gewalt entfernen lassen.“

Da beginnt Milovan zu zappeln und zu zucken: „Herr Major, Sie verstehen, meine Mutter?“ – „Der Herr Major versteht nichts“, schrillt die Mutter, „das hörst du doch!“ Und mit noch gewaltigerer Stimme, die vor der Mutter Stimme ankommt, brüllt der Major: „Sie! Sie melden sich bei mir zum Rapport. Und zwar umgehend, wenn wir in Palma Nova angekommen sind.“

Der Train ist angerückt, knirschend drehen sich die Räder, der Major hat keine Zeit mehr zum Donnern, die Kühlerschnauze des Majorautos drängt die Mutter zur Seite, es röhrt der Lastwagen, vorwärts grölen die Motoren, Alvin sitzt schon auf dem Wagen, die Zügel in der Hand, das Pferd folgt, der nächste Wagen schließt auf, bald werden nur noch Gestank und Staub am Straßenrand sein.

Die Mutter beginnt zu gehen, hügelan steigt sie, schräg ober den vorbeirasselnden Fahrzeugen... wieder zwischen Kräutern und Büscheln... Dahinter ist die Wiese gemäht, die Mutter wischt Blätter von den Waden, Blutflecken und Kratzbahnen sind darunter, Schlieren von Löchern im Seidenstrick der Strümpfe. Auf dem geschorenen Feld greifen die Schritte aus, weiter und weiter geht die Mutter fort, ich bleibe zurück, Luft pumpen muss ich, Atem schöpfen, immer heftiger, das Herz klopft, die Lunge schmerzt, die Seite sticht, der Fuß ist schwer, der eine und der andere, langsam hebt er sich, langsam setzt er sich vorwärts, die Luft will nicht strömen, nicht in meine Lungen, steht in der Hitze still. Die Muttergestalt ist schon über dem Hügel, wendet sich nicht nach mir.

Viele große Schritte gehen. Am Hügelrücken ankommen. In der Kehre haben die unter uns wieder angehalten. Der Schimmel nickt. Die Mutter steht, die Hand auf der Brust, die Augen im Schrecken weit offen. So steht Milovan, die Augen groß, die Wangen fieberrot, die Mutter, bleich, hält den Rock geschürzt, silberweiß sind die Beine, das Blut auf Schienbein und Waden hat zugenommen, hat Rinnsale gemacht und Tropffäden, angetrocknetes Gekräusel um die Strumpflöcher gesetzt. Milovan schaut auf die geschundenen Beine der Mutter (wie einer, der zum ersten Mal die Beine bemerkt, unbeschützt, weil die Mutter vergaß, den Rock herabgleiten zu lassen – nein, weil sie ihn, schon bereit zum Vorangehen, gerafft hält, weil sie im Geist schon flieht. Komm, Milovan, geh sofort mit). Milovan liest in den Falten des geschürzten Tuchrockes, begreift das Geheimnis, hebt den Kopf und erkennt den Bruder, der sich über die Seitenwand des Lasterwagens beugt. Der grinst. „Ich komme nicht mit, ich bleibe bei meinem Pferd!“ (Dein Pferd! Alles für dein Pferd!)

Der Blick des großen Bruders starr im Glanz, das Gesicht hart-straff: „Nein Alvin, du bist jung genug, du darfst. Du musst. Also los.“ Die Mutter hat zu gehen begonnen, auf einen Bauernhof zu, der sich in die Wiese duckt. „Ich bin schon groß, und daher ist es verboten“, ruft Alvin fröhlich und schaut ihr nach. Da richtet sich Milovan hoch auf, macht einen Schritt, reckt seinen Arm und reißt den Bruder vom Wagen herunter, der Stoff knirscht, der Knochen schlägt gegen Holz, der Bruder krümmt sich und stolpert, aber er fällt nicht, er torkelt, Milovan fängt ihn wieder am Kragen, schiebt ihn vor sich her, und obwohl Alvin größer ist als er, duckt er ihn wie einen Kleinen, zwingt ihn, lässt ihn zappelnd gehen, hinter der Mutter her, ich schließe mich der Promenade an, ein Familienspaziergang, drei Kinder, die tölpelnd der Mutter folgen.

Die Köpfe der Männer gegen die Sonne reglos. (Was haben sie gehört? Was denken die Hirne stumpf im Staub? Alles ist vorhergesagt und anbefohlen. Bald wird der Train sich wieder bewegen, wie immer, langsam, ratternd, vom Sandmehl bestaubt, sich auf die vorbedachte Zukunft hinlenken, in ewig vertrauter Gewohnheit – nichts auswechseln, nicht aufstehen, nichts Plötzliches, Unvorbereitetes herzulassen, keine fremden Bilder aufnehmen. Alles wie vorausberechnet und vorgemacht. Alles, wie alle es sehen. Was uns gesagt wurde, dass wir es wollen. Wir in der Gemeinschaft rücken vorwärts. Nicht die vertraut gewordene gemeinsame Erinnerung an morgen aufgeben, gar allein entscheiden, den Halt im Vorgesagten verlieren. Nicht der Erste sein, der sich anders bewegt. Die Richtung wechselt. Dem Überraschenden folgt. Dunkel verhangen sind die Hirne von unscharfen Gedanken vom gestrigen Tag. Die Füße, ja unsere Füße sind zu müde, einem neuen Ungewissen nachzugehen.

Wir dort sind Zuschauer. Sehen der Mutter Rücken, einer Mutter Arme, wie sie die Söhne weisen. Wir dort sind erschöpft. Wie aber, wenn einer von euch die Stimme dieser Mutter hörte, sich bewegte, mit aufplatzender Entschlossenheit? Aus dem Schatten spränge, herzukäme in gleichmäßigen Schritten, unaufhaltsam – und ein anderer unter euch würde spüren, wie sich der Abstand zu dem vergrößert, wie unerträglich die Trennung von diesem Gefährten würde, wie sich ein Kraftfeld dehnte, bis das unsichtbare Zugband so schmerzte, dass er ihm nachgäbe und nachkomme – und schon steigt ein Nächster von dem Wagen herab und ein Nächster, ein Wanderzug beginnt, die Sonne strahlt auf das Hasten hinter uns, ein Rennen und Scharren ist, ein Jeep führe vor, dampfend und schwer, vier Soldaten höben ihre vier Gewehre und würden schießen: sofort, gegen den Himmel – aber von des Hügels Nase klänge die Stimme einer Mutter hell über dem Gezeter der Gewehrsalven, die sich auf alle richten, die sich schneller bewegen, über Gestürzte sich schwingen... ein Befehl ertönte, Order von Krenner, Kommandogebrüll... gegen Frauenlockruf, Mutterschrei...).

Doch nichts ist hinter uns, keine Füße, die trappen. Nur die Reifen eines Jeeps knirschen. Der hält auf der Böschung über der Straße, vier Soldatenköpfe drehen sich weg von uns, neigen sich zueinander. Die Mutter sieht die Briten nicht, sie geht hügelan voraus, Milovan führt immer noch den kleinen großen Bruder am Ellbogen eisenhart, hinein in einen Weg unter blühenden Obstbäumen, ich ahne ein donnerndes Schlagen und spüre das Schnalzen der Sicherungen an den Gewehren, der Rücken brennt an der Stelle, wo die Kugeln träfen, nicht umdrehen, Fedja, hinein in den Sommerduft, hinüber ins Unsichtbare im-Wind-und-in-der-Ruhe. Dort anhalten und vorsichtig lugen. Der Jeep ist verschwunden, die hundertfache Soldatenkopfschnur des Trains blickt südwärts, wo die Straße im Staub sich auflöst. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2011)

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