Kirchen- oder eine fundamentale Glaubenskrise?

Eine Antwort auf die Kritik von Kardinal Kasper am Memorandum „Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch“. Die große Herausforderung ist, wie die Gehalte des christlichen Glaubens in den Horizont moderner Vernunft zu übersetzen sind.

Das Memorandum „Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch“, das von zahlreichen TheologInnen vor allem aus dem deutschen Sprachraum unterzeichnet worden ist, hat eine breite Zustimmung von Gruppen gefunden, die schon lange für die darin angesprochenen Reformen von der Zölibatsfrage bis zu moraltheologischen Problemfeldern eintreten. Inzwischen ist allerdings neben der üblichen Polemik ultrarechter kirchlicher Kreise auch von kompetenter Seite eine deutliche Kritik vorgebracht worden.

Kardinal Walter Kasper hat in der „FAZ“ (11.2.2011) seine maßlose Enttäuschung darüber zum Ausdruck gebracht, dass das Memorandum bloß auf der Oberfläche sattsam bekannter Strukturfragen geblieben sei, statt die Kirchenkrise in ihrer eigentlichen Tiefe – nämlich als Ausdruck einer fundamentalen Glaubenskrise – theologisch zu thematisieren.

Als Philosoph kann ich dieser Kritik nur zustimmen. Die Krise der katholischen Kirche liegt tatsächlich weitaus tiefer und lässt sich gewiss nicht mit einigen Strukturreformen überwinden. Eine seriöse Analyse der „Glaubenskrise“ in europäischen Gesellschaften kann jedoch schwerlich Inhalt eines Memorandums sein, sondern bedarf eingehender Studien.

 

Die christliche Idee von Gemeinde

Dennoch habe ich das Memorandum „Kirche 2011“ unterzeichnet, weil die darin geforderten Reformen einige Probleme ansprechen, die die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche seit Längerem massiv untergraben; Probleme, die zudem keineswegs bloß oberflächlicher Natur sind, sondern letztlich das Verhältnis der Kirche zur Moderne insgesamt betreffen.

Im Zentrum des Memorandums steht die Stärkung von Mitbestimmung und Autonomie der Gläubigen in der katholischen Kirche. Dies bedeutet keineswegs, wie Kritiker zumeist einwenden, dass der Kirche die Struktur eines säkularen demokratischen Rechtsstaates übergestülpt werden soll und Glaubensfragen einer Mehrheitsentscheidung überlassen werden.

Die christliche Idee von Gemeinde (koinonia), die Haltungen der Hingabe an die Armen und Vergebung selbst gegenüber Feinden miteinschließt, geht tatsächlich weit über die Kommunikationsformen demokratischer Willensbildung, jedoch erst recht über klerikal-hierarchische Strukturen, die aus dem Zeitalter des Absolutismus stammen, hinaus. Doch statt demokratische Partizipation zu überbieten, erfolgen Bischofsernennungen in einem für Laien undurchschaubaren Nebel kirchendiplomatischer Interventionen und Intrigen.

Auch die im Memorandum erhobene Forderung nach einem Ende des moralischen Rigorismus berührt ein zentrales Problem von Kirche und Moderne, nämlich das Verhältnis von Vernunft und Religion im Bereich der Moral.

 

Bodenloser Relativismus?

In dieser sensiblen Frage wird von Kritikern vorschnell die neuzeitliche Moral mit einem bodenlosen Relativismus identifiziert, in dem moralische Fragen wie in der Politik dem Mehrheitsprinzip überlassen werden. Nun ist tatsächlich nicht zu leugnen, dass durch die positivistische Wende in der Aufklärung die ethische Vernunft durch instrumentelle Rationalität verabschiedet worden ist. Papst Benedikt XVI. ortet daher nicht zu Unrecht den relativistischen Skeptizismus der Moderne im Rechtspositivismus (Kelsen) und der philosophischen Postmoderne (Rorty). Zugleich ist jedoch in der Moderne über Kant das sokratische Erbe einer ethischen Vernunft wach geblieben.

So geraten zwar in der Moderne moralische Fragen in den Sog argumentativer Prüfung, doch die Einsicht in die Vorläufigkeit moralischer Urteile ist stets von der Unbedingtheit der Wahrheitssuche getragen. In diesem Sinn anerkennt auch Papst Benedikt XVI. selbst Poppers Verbindung von Fallibilismus und dezisionistischer Moralbegründung als einen nicht relativistischen Ansatz neuzeitlicher Ethik.

Radikaler als Popper hat die Diskursethik das Kant'sche Projekt einer Vernunftmoral rehabilitiert. Die Unbedingtheit der Pflicht zur argumentativen Rechtfertigung sämtlicher Geltungsansprüche korrespondiert nach Apel und Habermas mit der Einsicht in die Vorläufigkeit konkreter moralischer Urteile. Bekanntlich betont Papst Benedikt XVI. wie kaum ein anderer Papst die Einheit von Vernunft und Glaube. Wenn das Bekenntnis zur Aufklärung nicht schal werden soll, muss es daher in der katholischen Kirche auch im Bereich konkreter moralischer Fragen einen breiten Raum für die sokratische Suche nach dem Richtigen geben. In diesem Sinne verstehe ich die Kritik am moralischen Rigorismus im Memorandum.

 

Gefahr der inneren Spaltung

Die katholische Kirche droht in Europa an einer inneren Spaltung zwischen antimodernistischen und modernitätsoffenen Strömungen zu zerbrechen. Das Memorandum „Kirche 2011“ fordert im Hinblick auf diese tiefe Krise primär die Beseitigung einiger unnötiger Hindernisse für eine Erneuerung christlicher Lebensformen.

Zu diesen Hindernissen gehört, obwohl die Diskussion mehr als redundant ist, auch der Pflichtzölibat für Priester, der bei einer nüchternen Betrachtung der realen Verhältnisse nicht mehr Zeichen einer radikalen Hingabe ist, sondern längst zum Eckpfeiler einer offiziell gewordenen Unmoral und damit zu einem wirklichen Ärgernis geworden ist.

Das eigentliche Problem der Kirchen- und Glaubenskrise in Europa liegt gewiss tiefer, nämlich in der Herausforderung, wie die Gehalte des christlichen Glaubens in den Horizont moderner Vernunft übersetzt werden können. Obwohl sich Theologie und Philosophie an dieser Frage seit mehreren Jahrhunderten abarbeiten, überfällt auch mich immer wieder das Gefühl, dass wir sowohl im Blick auf unsere Deutungsversuche als auch auf unsere alltägliche Praxis oft mit leeren Händen dastehen.

 

Die Vernunft der Moderne

Ich kann daher die Enttäuschung konservativer christlicher Kreise über die Laxheit und Unverbindlichkeit „modernitätsoffener“ Christen verstehen. Wer jedoch durch achsenzeitliche und moderne Aufklärungsprozesse einmal auf seine Vernunft zurückgeworfen worden ist, für den gibt es kein redliches Zurück in eine unhinterfragte Identität des Glaubens oder gar in eine blinde Unterwerfung unter allzu menschliche kirchliche Strukturen.

Kurz: In westlichen Gesellschaften werden christliche Kirchen nur überleben, wenn sie sich sowohl in der theologischen Selbstvergewisserung als auch in der institutionellen Ausgestaltung der diskursiven, nicht relativistischen Vernunft der Moderne ohne Blockaden stellen.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

 

Zum Autor

Johann Schelkshorn (*1960) studierte Theologie und Philosophie in Wien und Tübingen. 1989 Dr. theol., 1994 Dr. phil.; 2007 Habilitationsschrift „Entgrenzungen. Ein philosophischer Versuch über die Moderne.“ Seit 2007 Ao. Prof. am Institut für Christliche Philosophie der Uni Wien; zahlreiche wissenschaftliche Publikationen. [PRIVAT]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2011)


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