Kaum schwere Waffen, kaum Kampferfahrung: Die Lage der libyschen Rebellen im Osten des Landes ist verzweifelt, doch ihr Kampfgeist ist ungebrochen. Alle unterstützen den Aufstand.
Fatiah Essaid sitzt in einem Zelt am Revolutionsplatz in Bengasi. In ihrem Schoß liegt ein Foto ihres geliebten Sohnes Munir Meshdout.
Ruhig erzählt sie von dem Tag, der ihr Leben und die Geschichte Libyens für immer verändert hat: „Am 15. Februar ging er außer Haus, um eine friedliche Demonstration an der Kathiba abzuhalten“, sagt sie. Damit meint sie die Kaserne, in der Regierungstruppen stationiert waren. Als diese Sicherheitskräfte angriffen, wurde Munir verwundet. Er bekam eine Kugel in den Hals. Dann wurde er in das Jalaa-Spital transportiert, wo er über eine Woche lang blieb, ohne irgendeine Behandlung zu erhalten – nicht einmal das Röntgen, das er dringend gebraucht hätte. „Als ich ihn besuchte, konnte er nicht einmal sprechen“, fährt Fatiah fort und kann dabei ihre Gefühle kaum noch beherrschen.
„Er sah mich einfach an und begann zu weinen.“ Nach neun Tagen Leiden starb er und füllte so die Reihen der „Shahid“, der Märtyrer, deren Tod die libysche Revolution entfachte. So schmerzlich der Verlust eines Sohnes auch sein mag: Für Essaid sind die Ereignisse dieses Tages kein Grund zur Trauer. „Es dürfte der Preis sein“, sagt sie, „den wir für eine bessere Zukunft dieses Landes zahlen müssen.“
Alle kämpfen mit. Wie die meisten Menschen in Bengasi vertraut die 60-jährige Frau immer stärker auf ein glückliches Ende der Revolution. Trotz der Bedrohung, die Gaddafis Männer immer noch darstellen, ist in der Stadt der Kampfgeist groß und das Bewusstsein stark, für eine gerechte Sache zu kämpfen. Revolutionsfahnen und -plakate sind überall zu sehen, jeden Tag finden Kundgebungen statt.
Am Freitag wird der Hauptplatz von Menschen überschwemmt, die aus der ganzen Gegend kommen, um gemeinsam mit den Kämpfern zu beten. Die Unterstützung für die Revolutionäre scheint ehrlich und aufrichtig. Jeder trägt seinen Teil zum gemeinsamen Ziel bei. Die einen stehen an der Front, die anderen verteilen Essen oder führen Journalisten kostenlos durch die Stadt. Die Eroberung eines Panzers wird sofort in der ganzen Stadt gefeiert.
Keine Verhandlung möglich. Die Bereitschaft der Menschen, ihre Meinung kundzutun, ist so überwältigend, wie es nur während eines Volksaufstands sein kann. Jeder, der bereit zu kämpfen war, vom Teenager bis zum alten Mann, nahm an der Schlacht vom 19. März teil, bei der die Rebellen einen Gegenangriff der regierungstreuen Truppen zurückschlagen konnten – entscheidend unterstützt von französischen Luftangriffen.
„Es war eine seltsames Gefühl“, erklärt Mohammed Abdallah, ein Zivilist, der zum Soldat geworden ist. Er war dabei beim Kampf um die Stadt. Nun kommt er im Krankenhaus zu Kräften, nachdem er drei Mal von Kugeln ins Bein getroffen wurde. „Ich habe das Gefühl, ich habe viel mehr getan, als ich von mir selbst erwarten konnte. Ich musste zusehen, wie drei meiner besten Freunde starben. Aber statt mich mutlos zu machen, verdoppelte es meine Kampfkraft.“ Dieser Sieg gegen die Gaddafi-Truppen dürfte der Wendepunkt des Kriegs gewesen sein.
Der Revolutionär Nasser hat die Aufgabe, neue Rekruten zu einem Sammelpunkt außerhalb der Stadt zu bringen. Am Tag vor der Schlacht konnte jeder in die eroberte Kaserne gehen und Waffen ausfassen. Man musste nur seinen libyschen Personalausweis zeigen. „Wir schafften beides: die Stadt zu verteidigen, und wir verhinderten, dass diese Waffen von Gaddafis Leuten geholt werden“, erklärt er. Zwei Monate nach Beginn der Revolution, nach tausenden Toten, sind sich beide Seiten bewusst, dass es keinen Raum für Verhandlungen gibt. Die hohe Zahl der Opfer bei der Offensive des Regimes hat die Bevölkerung Bengasis weiter verbittert. Niemand hier will die die politischen Führer ohne Prozess außer Landes lassen. Gaddafi und die Revolutionäre werden bis zum bitteren Ende miteinander kämpfen.
Das zeigt die Schlacht um Ajdabiya, eine Stadt 150 Kilometer südlich von Bengasi. Bis gestern wurde sie von regimetreuen Truppen gehalten, ihre Bewohner und die Angreifer von Artillerie beschossen. Nun – nachdem Gaddafis Truppen die Stadt Hals über Kopf verlassen haben – brauchen sie dringend Nahrung, Wasser und ärztliche Betreuung (siehe Artikel Seite 5).
Ärzte berichten, dass auch sie und ihr Personal zur Zielscheibe geworden sind. Man wollte sie von der Stadt abschneiden und so den Widerstand der Bewohner brechen – allerdings ohne Erfolg. Die Rebellen wissen hier und anderswo, dass die Zeit und die Menge der Kämpfer auf ihrer Seite sind. Deshalb leisten sie stur Widerstand und warten darauf, dass Gaddafis Truppen Nachschub und Munition ausgehen.
Luftschläge als Atempause. So gesehen haben die Luftschläge der internationalen Koalition der libyschen Rebellenbewegung eine dringend nötige Atempause verschafft. Denn so leidenschaftlich sie auch sind, fehlt es ihnen doch immer noch an militärischen Fähigkeiten, an Training und an einer klaren Kommandokette. „Wir sind total motiviert. Die Leute geben ihren Job oder ihr Studium auf und kommen freiwillig zu uns“, erklärt Mustafa El Sagezli, der stellvertretende Kommandant des größten Trainingscamps der Rebellen von al-Gouarcha im östlichen Teil von Bengasi. „Das Problem ist, dass wir nicht genug Waffen und Ausbilder haben.“
Dort, auf einer dürren, staubigen Lichtung, sitzen Dutzende Jugendliche im Kreis um einige wenige Geschütze und leichte Waffen. Ein paar alte Ausbilder aus der libyschen Arme zeigen, wie sie zu bedienen sind. Die notdürftige Schulung dauert zwischen einer Woche und einem Monat. Die Rekruten bekommen vor Ende des Kurses nicht einmal ein eigenes Gewehr.
Aber ihre Ausbilder sind von ihren Fähigkeiten überzeugt; „Diese Burschen sind fantastisch, so begierig zu lernen“, schwärmt Hassan Ghedif, ein 62 Jahre alter Veteran der libyschen Sondertruppen, der sich freiwillig für den Stützpunkt gemeldet hat. „Wenn wir eine ordentliche Ausrüstung hätten, wären sie in wenigen Tagen kampftauglich.“
Rekruten ohne Waffen. Der Stützpunkt ist voll mit verbrannten Autoleichen und zerstörten Gebäuden, die die Narben der Schlacht tragen. Er ist ein Symbol für den erstaunlichen Wandel, den Libyen erlebt. Jetzt dient er als Traningscamp für die Bürgermilizen, die die Stadt schützen sollen. Früher war er die Hochburg der gefürchteten „Lejan Thawriya“, Gaddafis Geheimpolizei, die für Sonderaktionen wie Hinrichtungen ohne Gerichtsurteil zuständig war.
Die Menschen in Bengasi erzählen, dass die politischen Gegner hergebracht wurden, um sie zu verhören, zu foltern und oft auch zu töten. Es hieß „Stützpunkt des 7. April“, nach dem Tag, an dem Gaddafi einige politische Gegner in Bengasi aufhängen ließ. Nach seiner Eroberung wurde es zum „Trainingslager des 17. Februar“, zu Ehren der Revolution.
Hier hat auch der 45 Jahre alte Walid Mohammed, ein Arbeitsloser aus Bengasi, sein Training abgeschlossen. „Ich habe nie zuvor eine Waffe bedient. Aber ich bin froh, dass ich es jetzt aus einem solchen Anlass tun darf“, sagt er. „Ich bin wahrscheinlich zu alt, als dass mir aus dieser Revolution irgendetwas Gutes erwachsen könnte. Aber meine Kinder werden hoffentlich die Früchte von dem ernten, was wir tun.“
Seine Entschlossenheit teilt er mit seinen Kampfgefährten. Aber er ist sich bewusst, dass der Krieg noch lange nicht zu Ende ist. Zwar ist Bengasi jetzt relativ gut durch die patrouillierenden französischen Kampfflugzeuge geschützt. Aber hunderte von regimetreuen „Lejan Thawriya“-Agenten verstecken sich immer noch in der Stadt und versuchen, den neu aufgestellten Nationalrat der Rebellen durch Stadtguerilla-Attacken zu destabilisieren. Tagsüber sind sie unsichtbar. Nachts kommen sie heraus und greifen überfallsartig Rebellen und Zivilisten an. Im Falle einer neuen Offensive gegen Bengasi könnten sie die Regimetruppen von innen wirkungsvoll unterstützen.
Keine fremden Bodentruppen. „Gaddafis Brigaden sind gut ausgerüstet und trainiert, während die libysche Armee nach Jahren der Vernachlässigung in einem erbärmlichen Zustand ist“, verrät Kommandant el-Sagezli. Die Möglichkeit, dass die internationale Koalition die Aufständischen bewaffnen könnte, begeistert ihn. „Alle Soldaten und Offiziere in Ost-Libyen haben sich uns angeschlossen, aber die Artillerie und die hoch entwickelten Waffen sind auf der anderen Seite.“
Über den Köpfen der Rebellen braut sich langer und zermürbender Krieg zusammen. Die internationale Gemeinschaft will sich nicht klar auf ihre Seite schlagen. Damit sind sie in einer Pattstellung, in der Gaddafi schnell die Überhand gewinnen kann, wenn die Luftschläge nachlassen. Aber auch wenn das Ergebnis der Revolution unsicher ist: Hier in Bengasi ist niemand bereit, fremde Truppen auf libyschen Boden zu akzeptieren.
Die Erinnerungen an die amerikanische Invasion im Irak sind in diesem Teil der Welt noch zu frisch. „Ich denke, es ist zu früh, überhaupt an so eine Möglichkeit zu denken“, sagt Mustafa Gheriani, einer der Sprecher des Nationalrats der Rebellen, dem Gremium, das in den Gebieten regiert, die in den Händen der Aufständischen sind. „Wenn die internationalen Streitkräfte weiter ihre Arbeit tun, können wir Richtung Tripolis vorrücken und an Boden gewinnen.“
So sieht es auch Fairouz Naas, eine 46-jährige Lehrerin, die Tripolis verlassen und sich in Bengasi der Revolution angeschlossen hat. „Es war schon ein ziemlicher Schock, sehen zu müssen, wie mein Land von einer ausländischen Streitmacht bombardiert wird. Ich weiß, es war notwendig. Aber irgendwie tut es mir im Herzen weh“, sagt sie. „Ich wäre nicht begeistert, hier eine fremde Armee akzeptieren zu müssen. Gaddafis Söldner reichen mir.“
Im al-Jalaa-Spital, einem der wichtigsten in Bengasi, ist ein kleiner verschlossener Raum im Leichenschauhaus für sie reserviert: für Gaddafis getötete Mannen. Schon kurz nach dem Ende der Schlacht um Bengasi pilgerten viele einfache Leute dorthin, begierig darauf, ihren Triumph auszukosten, indem sie einen kurzen Blick auf die Leichenberge ihrer Feinde warfen.
Nach Angaben der Aufständischen beweisen die Namensschilder der Getöteten, dass es sich um Söldner aus Nachbarländern handelt. „Sie kommen aus dem Tschad, aus Nigeria, Kenia, Algerien und Syrien ... Gaddafi ködert sie mit Geld. Er bietet ihnen hunderte Dollars, damit sie sein eigenes Volk töten“, erklärt der Rebell Nasser. „Einige von ihnen hatten sogar gefälschte libysche Dokumente bei sich, um hier im Land leben zu können.“
In seinen Reden bezeichnete Gaddafi die Rebellen als „Abgesandte von al-Qaida“. Vielleicht wollte er ihnen damit die Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft entziehen. Das brachte für die Bevölkerung das Fass zu Überlaufen. Für sie ist er an allem schuld, vom chronischen Jobmangel bis zur brutalen Unterdrückung der Regimekritiker.
Fremdwort Demokratie. „Sehen wir etwa aus wie al-Qaida-Terroristen?“, fragt Salah Feitour ironisch. Der 32-jährige IT-Ingenieur griff zu den Waffen, um die Stadt zu verteidigen, so wie viele seiner Freunde. „Wir sind Studenten, Angestellte, Händler ... Wir können es kaum erwarten, zu unserem normalen Leben zurückzukehren. Aber vorher müssen wir das Land von diesem Regime reinigen.“
Wenn die Revolution Erfolg hat, beginnt in Libyen der lange Wiederaufbau. Wörter wie Demokratie und Verfassung sind dieser Tage in aller Munde. Aber diese Gesellschaft stand 43 Jahre unter der Herrschaft eines Mannes. Es wird schwer sein, sie in Richtung eines ganz anderen politischen Systems zu steuern.
Viele Libyer vertrauen dabei einfach auf die gebildete Diaspora im Ausland. „Sie werden zurückkommen und uns helfen, das Land wieder aufzubauen“, versichert Mohammed Haddouth, ein 51-jähriger Mann aus Tobruk. Er nennt sich gerne „ein zwei Monate altes Baby“. Denn „das Leben vor der Revolution war kein echtes Leben“.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.03.2011)