Kopftücher? Namen! Junge Kunst am Bosporus

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In der Millionenmetropole entwickelt sich explosionsartig eine neue Kunstszene - obwohl oder gerade weil sich die Veranstaltungen der "Kulturhauptstadt Istanbul" 2010 weitgehend in Folklore erschöpft haben.

Gülizer, Cemile, Sisi oder Hülya: Jedes Tuch, das sich die junge Frau vom Kopf abwickelt, trägt einen Frauennamen. Das letzte heißt Rabia. Dann sehen wir nur noch eine Maske – die sich Nibar Güres am Ende vom Gesicht zieht und uns lachend in die Augen schaut. Die junge, türkische Künstlerin drehte das Video im Jahr 2006 als Antwort auf die zunehmende Angst vor Aggression gegen den Islam – die sie hautnah erlebt, denn sie lebt seit ihrem Studium in Wien. Mit spitzem Humor nimmt sie das Kopftuch als Inbegriff des „Fremden“, entschärft das Bedrohliche durch die absurde Häufung viel zu vieler Tücher, ästhetisiert es durch die wunderschönen Muster und Farben, individualisiert es durch die Namen und überhöht es durch die vielen verschiedenen Bindetechniken.

Mit „Undressing“ wurde die 1977 in Istanbul geborene Künstlerin erstmals bekannt. Jetzt hat sie eine große Einzelausstellung mit Fotografien und Zeichnungen in Galerie Rampa in Istanbul. Die Galerie, die 2010 gegründet wurde, wird im Mai an der Wiener Kunstmesse Viennafair teilnehmen. Das österreichische Unternehmen OMV sponsert der Galerie einen großen Stand im Rahmen des Städteschwerpunkts Istanbul.

Auktionen weckten das Interesse

Dieser Schwerpunkt kommt gerade zur rechten Zeit. Denn seit Kurzem entwickelt sich die türkische Kunstszene explosionsartig – und ihr Zentrum ist die 13-Millionen-Einwohner-Stadt auf dem Bosporus. Viel zu lange galt hier das Interesse ausschließlich byzantinischen Bauwerken und historischem Kunsthandwerk, woran auch die „Kulturhauptstadt Istanbul“ letztes Jahr scheiterte. Nahezu das gesamte Budget von kolportierten 175 Mio. Euro wurde in Renovierungen und folkloristische Projekte gesteckt. Niemand mag auch nur ein gutes Wort über die Veranstaltungen sagen, als deren traurig-offizieller Höhepunkt ein U2-Konzert galt. Sämtliche anfangs geplanten künstlerischen Projekte dagegen sind versumpft.

Verharrt das offizielle Istanbul also in beharrlichem Stillstand, entwickelt sich die zeitgenössische Kunst dank privatwirtschaftlichen Engagements umso rasanter. Noch vor zehn Jahren gab es hier ausschließlich historische Museen, bis der Architekt Can Elgiz im Herbst 2001 sein Museum „Proje4L/Elgiz“ für türkische und internationale Kunst eröffnete. Damals gab es in der Stadt noch keine fünf Galerien. Im Dezember 2004 folgte dann das Museum „Istanbul Modern“ auf Initiative und Kosten der Familie Eczacibasi, die auch langjähriger Sponsor der 1987 gegründeten Istanbul Biennale war. Aber nicht die Biennale, sondern die Auktionen türkischer Kunst von Sotheby's 2009 in London und Christie's in ihren „Middle East Auctions“ in Dubai ließen schließlich das Interesse an Kunst sprunghaft ansteigen. Heute gibt es gut ein Dutzend international namhafter Galerien in Istanbul, die Werke türkischer Künstler weltweit an Museen und Sammler verkaufen.

Zwölf Galerien – das erscheint wenig. Aber man muss bedenken, dass die Türkei eine ganz junge, gerade erst 88 Jahre alte Nation ist, deren Sprache auch damals erst auf Wunsch von Staatsgründer Atatürk aus vermischten Sprachstämmen konstruiert wurde. Die Literatur erhielt prominente Bedeutung, musste doch die Sprache schnell etabliert werden. Die Kunst hinkte nach.

Doch wer Istanbul in diesen Tagen besucht, erlebt eine faszinierend vielschichtige Kunstszene, voller Rückbezüge, scharfer Beobachtungen und respektvoller Bestandsaufnahmen. Zwei neue, nicht kommerzielle Institutionen widmen ihre Arbeit diesem Potenzial: Arter und Salt. Die Adresse beider Häuser ist die Einkaufsstraße Istiklal Caddesi im Stadtteil Beyoglu. Es ist das zentrale Vergnügungsviertel Istanbuls. Jedes Wochenende kommen gut zwei Millionen junge Menschen hierher. An der Straße reihen sich Geschäfte aneinander, kleine Kneipen und Shisha-Bars, oben auf den Dächern bieten elegante Cocktailbars und Restaurants einen fantastischen Blick über die Stadt. Zwei der historischen Gebäude dienen jetzt der Kunstvermittlung. Beide sind erst renoviert worden. „Arter – Space for Art“ befindet sich in einem Art-Deco-Haus. Es gehört zur VehbiKoc Foundation, die bisher vor allem Bildung, Gesundheit und historische Kultur finanziert hat, die Biennale sponsert und seit Juni letzten Jahres auf 900 Quadratmetern zeitgenössische Kunst zeigt. Im Moment ist die Ausstellung „Tactics of Invisibility“ zu sehen, eine Koproduktion mit der Wiener Institution TBA 21 (Thyssen-Bornemisza Art Contemporary), mit türkischen Künstlern von Ayse Erkmen, Esra Ersten, Nevin Aladag bis zu Sarkis und Kutlug Ataman.

Der Markt ist gerade am Anfang

Keine zwei Gehminuten entfernt auf der anderen Straßenseite hat jetzt „Salt Beyoglu“ eröffnet. Es ist eine bereits gut eingeführte Adresse. Früher zeigte Vasif Kortun ein ambitioniertes Ausstellungsprogramm. Letztes Jahr entschied er sich für einen Neubeginn: Die Garanti Bank stimmte zu, das Haus aufwendig zu renovieren und in ein 15.000 Quadratmeter großes „Laboratory“ umzubauen, um hier zu türkischem Design und Architektur des 19.Jahrhunderts, aber auch zur Kunst der 1980er-Jahre zu forschen. Im September kommt noch das ehemalige Stammhaus der Bank als „Salt Galata“ hinzu: Das historische Gebäude unten auf dem Bosporus wird seit zwei Jahren für 45 Millionen Euro renoviert. Ausstellungen seien in dieser Institution auch geplant, aber nebensächlich, erklärt Kortun. Er möchte mit Salt vor allem ein Gegengewicht zum Kunstmarkt aufbauen – und rät Künstlern, nicht all ihre Werke sofort zu verkaufen: Der Markt sei gerade erst am Anfang.

Neue Kunst in Istanbul

Zwölf Galerien gibt es derzeit in Istanbul – und etliche Museen. Architekt Can Elgiz eröffnete 2001 sein Museum „Proje4L/Elgiz“ für türkische und internationale Kunst. 2004 folgte dann „Istanbul Modern“ auf Initiative und Kosten der Familie Eczacibasi. Neue Initiativen: „Arter – Space for Art“ in einem Art-Deco-Haus mitten in der Einkaufsstraße Istiklal Caddesi gehört zur VehbiKoc Foundation und zeigt auf 900 Quadratmetern zeitgenössische Kunst. „Salt Beyoglu“ nennt sich ein 15.000 Quadratmeter großes „Laboratory“, ebenfalls in der Einkaufsstraße.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.04.2011)

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