Weißrussische Tschernobyl-Umsiedler haben im Dorf Druzhnaja nördlich der Hauptstadt Minsk eine neue Heimat gefunden. Jetzt fühlen sie sich von dem geplanten Atomkraftwerk Astrawets allerdings erneut bedroht.
Druzhnaja. Im Vorgarten sprießt das erste Grün, weiß bemalte Steine kreisen akkurat Blumenbeete ein, dahinter steht ein gelb bemaltes Holzhaus. Wohlgeordnetes, idyllisches Dorfleben. Valentin Muraschka, ein Mann im Blaumann, eine Kappe auf dem Kopf, erinnert sich noch gut, als er zum ersten Mal den Ort sah, an dem sein zweites Leben beginnen sollte. „Am Anfang war da nur ein Feld, ohne Bäume“, sagt der 52-Jährige. „Es war schrecklich.“
Nach der Katastrophe im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986 fand sich Muraschka in der 30-Kilometer-Sperrzone wieder. Sein Dorf in dem von der atomaren Wolke stark betroffenen Gebiet Gomel im Süden Weißrusslands, war von einem Tag auf den anderen unbewohnbar geworden.
Er und seine Familie mussten wie 300.000 andere Menschen in Weißrussland und der Ukraine evakuiert werden. Muraschka hörte von der Initiative „Heim statt Tschernobyl“, einer privaten Hilfsorganisation eines deutschen Ehepaars. Die NGO soll für junge Familien mit Kindern neue Häuser in einem unverseuchten Gebiet nördlich der Hauptstadt Minsk errichten. Die Bedingung: Man müsse am Bau kräftig mithelfen. 1994, nach einem Jahr Bauzeit, zog Muraschka in der Siedlung Druzhnaja ein, als einer der ersten Bewohner. Mittlerweile stehen hier über 30 Häuser, 120 Menschen leben in dem Ort, der nur ein paar Kilometer vom Erholungsgebiet des Naratsch-Sees entfernt liegt.
Kühler Empfang für Umsiedler
Die Umsiedler wurden von den Alteingesessenen nicht unbedingt freudig empfangen. Gerüchte über die „geschenkten“ Häuser machten die Runde, Fragen wurden gestellt: „Was ist, wenn Ihr Sohn und meine Tochter einmal heiraten?“ Niemand könne schließlich garantieren, dass die Kinder der Umsiedler gesund sein würden. Berechtigte Fragen, sagt Gero Müller aus dem Vorstand, denen man mit Gesprächen und Aufklärung zu begegnen versuche.
Druzhnaja und die zweite Siedlung des Vereins in Starij Lepel sollen aber auch als Vorbilder für andere Gemeinschaften wirken: Am Rand der Siedlung stehen die einzigen beiden Windkraftwerke Weißrusslands. Sie speisen Strom in das lokale Netzwerk. „Die Behörden sollen sehen, dass es auch ohne Atomstrom geht“, sagt Jurij Suprinowitsch, Geschäftsführer von Ekodom, der weißrussischen Partnerorganisation.
Die atomare Gefahr ist auch im Narotsch-Gebiet nicht gebannt. Die Regierung plant die Errichtung eines neuen Atomkraftwerks in 60 Kilometer Entfernung. Das AKW Astrawets soll 2017 in Betrieb gehen, Bauherr ist die russische Rosatom. Dass gerade ein von Russland finanziertes Projekt die gewünschte Unabhängigkeit von der russischen Energieversorgung bringen soll, halten viele Kritiker für einen schlechten Witz.
Weißrusslands finanziell angeschlagene Regierung versucht die skeptische Bevölkerung stimmungsmäßig bei der Stange zu halten: In diesem Jahr sollen etwa die Einnahmen eines „Subbotniks“ (ein organisierter „freiwilliger“ Arbeitstag nach sozialistischer Tradition) an das geplante Atomkraftwerk gehen. Vier Millionen Euro hat der letzte landesweite Subbotnik gebracht. In Bezug auf die Kosten des Atomkraftwerks – insgesamt 4,2 Milliarden Euro – nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
„Wir sind schon einmal von einem Atomkraftwerk geflüchtet“, sagt Valentin Muraschka im Dorf Druzhnaja. „Jetzt holt uns das nächste ein.“ Die Dorfbewohner fänden das beunruhigend.
Er selbst macht sich, wie so viele andere Bürger, aber keine Illusionen, dass er an den Atomplänen seiner Regierung etwas ändern könnte. „Ganz Weißrussland schweigt. Was sollen wir aus einem kleinen Dorf schon tun?“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 26. April 2011)