„Kreuzer um Kreuzer sparten sie...“

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Die spätere Politikerin Adelheid Popp und der Schriftsteller Alfons Petzold schrieben sich ihre Erinnerungen von der Seele, Max Winter berichtet als Journalist über die Schattenseiten der Residenzstadt Wien.

„Viel öfter hatten die Arbeiterinnen ihre Eltern zu unterstützen oder sie mussten Kostgeld für ihre Kinder bezahlen. Wie aufopfernd waren diese Mütter! Kreuzer um Kreuzer sparten sie, um es den Kindern zu verbessern und um der Kostfrau Geschenke machen zu können, damit diese den Kindern gute Pflege angedeihen lassen. Manche Arbeiterinnen mussten auch oft für den arbeitslosen Mann sorgen“ (circa 1900; aus: „Jugend einer Arbeiterin“ von Adelheid Popp).


„Am Neujahrstag musste ich in unserem Dorfe und in der Umgebung Neujahr wünschen gehen. Das war eine von der ärmsten Bevölkerung geübte Sitte. Man ging nur zu den als wohlhabend oder reich bekannten Familien und sagte dort einen Wunsch auf, wofür man eine Belohnung erhielt. Ich fürchtete mich ganz entsetzlich vor den Hunden, die die Häuser der Reichen bewachten, aber ich war doch bemüht, möglichst viel Geld nach Hause zu bringen. Oft ging ich zu einer Tür hinein, wo soeben ein anderes, ebenso missbrauchtes Kind herausging“ (circa 1885; aus: „Jugend einer Arbeiterin“ von Adelheid Popp).

Meine Lehrkameraden waren zumeist elternlose Burschen aus Böhmen, die auf Gnade und Barmherzigkeit ihren Lehrmeistern ausgeliefert waren, was denn auch bis zur Grenze des Erträglichen ausgenutzt wurde. Hätte einer von ihnen den Mut gefunden, sich bei der Genossenschaft der Schuhmacher zu beschweren, so wären sie von den Zünftlern wohl nur als undankbare Taschendiebe angesehen worden“ (circa 1995/96; aus: „Das rauhe Leben“ von Alfons Petzold).

„Die großen Spitäler waren für mich die Stätten ärgsten Grauens und furchtbaren Elends. Vielleicht weniger wegen des körperlichen Leids, das innerhalb der Wände in den Betten lag, als um des Zwanges willen, den sie für den Arbeiter bedeuteten. Man musste hier bleiben, bis der Körper gesund war, draußen aber ging inzwischen die Arbeit verloren. Beinahe jeden Tag verkündeten die Zeitungen den Selbstmord eines kranken Arbeiters oder einer Arbeiterin“ (nach 1900; aus: „Das rauhe Leben“ von Alfons Petzold).

„Die Küche ist 3,8 Meter lang und 1,9 Meter hoch. Sie ist von der Afterpartei, einem Taglöhner, seiner Frau und dem fünfjährigen Kind der beiden bewohnt. Sie schlafen zu dritt in dem einen Bett. Der Taglöhner zahlt für das Bett und die Küche als Wohnraum acht Kronen monatlich Miete an den Hauptmieter, der selbst im ganzen 15 Kronen 20 Heller bezahlt. Auch er ist Taglöhner. Er bewohnt mit seiner Frau und zwei Kindern das Zimmer“ (1904; aus: „Das schwarze Wienerherz“ von Max Winter).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.05.2011)

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