Stimmenfang bei den Auslandstürken

Wahl. Das große Interesse der Regierung in Ankara an den Türken im Ausland hat auch wahltaktische Gründe – die mehrheitlich konservative Klientel soll der regierenden AKP Wählerstimmen bescheren.

Ankara. Die religiös-konservative Regierung Erdogan hat weit mehr Interesse an den im Ausland lebenden Türken gezeigt als ihre Vorgänger. Jahrelang war es recht, wenn sie mit ihren Überweisungen der türkischen Wirtschaft halfen, ihren Urlaub in der Türkei verbrachten und dann auch wieder gingen.

Ein Grund für das neu erwachte Interesse an den Türken im Ausland scheint zunächst auf der Hand zu liegen: die Wählerstimmen der Auslandstürken. Die nach Europa ausgewanderten Türken kamen fast durchwegs aus Regionen, die konservativ-religiös oder konservativ-nationalistisch geprägt sind. Schon von daher kann Erdogans AKP auf einen überdurchschnittlichen Stimmengewinn durch sie hoffen.

Doch diese Rechnung geht nicht ganz auf. In der Türkei gibt es keine Briefwahl. Also kam man auf die Idee, Wahlurnen in türkischen Konsulaten im Ausland aufzustellen. Ein erster Versuch vor Jahren scheiterte am Widerstand der deutschen Regierung, die darin eine Verletzung der Souveränität sah. Diese Bedenken scheint es heute nicht mehr zu geben, dafür legte der Hohe Wahlrat in der Türkei sein Veto gegen die Pläne der Regierung ein. Grund: Probleme bei der Aufstellung eines Wählerregisters. Daher wird es für die Auslandstürken bei der Wahl am 12.Juni wie bisher nur die Möglichkeit geben, bei der Ein- oder Ausreise an türkischen Flughäfen ihre Stimme abzugeben. Dafür werden Wahllokale an den Flughäfen einige Wochen vor der Wahl eröffnet.

Lobby-Arbeit für das Land

Doch die Stimmen der Auslandstürken sind nicht das Einzige, was die Regierung Erdogan interessiert. Sie sollen auch Lobby-Arbeit betreiben. Vor anderthalb Jahren lud Erdogan 1500 Auslandstürken, die im Ausland in der Politik oder in anderen Bereichen eine gehobene Stellung haben, unter dem Motto „Wo auch immer einer unserer Landsleute ist, da sind wir“ zu einem Essen nach Istanbul ein. Erdogan forderte die Anwesenden auf, die europäische Kultur mit der türkischen zu „impfen“, was ein wenig nach der Behandlung einer Krankheit klingt.

Im April 2010 berichtete die Zeitung „Radikal“, die Agentur für Wirtschafts- und Investitionsförderung der Türkei (Ispat) habe eine Liste von 2500 Personen mit türkischem Hintergrund erstellt, die in ausländischen Unternehmen eine gehobene Funktion haben. Ispat schrieb sie an, damit sie ihre Firmen zu Investitionen in der Türkei bewegen.

Die Bemühungen, sich eine politische und ökonomische Lobby im Ausland zu schaffen, gehen aber zumindest zum Teil an den Realitäten vorbei. Gerade politisch interessierte und beruflich erfolgreiche Türken im Ausland lassen sich keineswegs die Stichworte von Ankara vorgeben. Unabhängig davon, aus welchem Landesteil der Türkei sie kommen, entsprechen sie auch nicht dem typischen Profil von Erdogans Wählern, die meist aus Schichten mit geringer Bildung kommen. Eine Wahlprognose für den 12.Juni geht davon aus, dass drei von fünf Hausfrauen Erdogan wählen werden, aber drei von fünf Studenten die Opposition.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2011)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Leitartikel

Entscheidet euch, ob ihr „unsere“ oder „ihre“ Leute seid

Die türkische Regierung nennt österreichische Staatsbürger türkischer Herkunft „unsere Leute“. Diese sollten sich dagegen wehren. Wir auch.
Österreich

Die Macht der türkischen Medien

TV, Zeitungen. Der überwiegende Großteil der türkischen Migranten nutzt türkische Medien. Inhaltlich wandelt sich der Fokus von Nachrichten aus der alten Heimat zunehmend auf das Leben in Österreich.
Österreich

Experte: „Türkische Vereine sind langfristig Integrationsbremsen“

Interview. Die Türkei muss in Sachen Vereinnahmung der Auslandstürken noch einen selbstkritischen Reinigungsprozess durchlaufen, sagt Migrationsexperte Heinz Fassmann. von ERICH KOCINA

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.