Fettleibige Jugendliche: "Das wächst sich nicht aus"

Fettleibige Jugendliche waechst sich
Fettleibige Jugendliche waechst sich(c) AP (Alexandre Meneghini)
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Sie sind jung, aber sie können sich kaum mehr bewegen. Fettleibige Jugendliche, wie man sie bisher vor allem aus den USA kannte, nehmen auch bei uns zu. Bei manchen hilft nur eine Operation.

Das Problem lag im dritten Stock. Dorthin schaffte es Lukas P. nur unter Ächzen und Stöhnen. Langsam arbeitete er sich die Treppen hinauf. Schweiß rann ihm über das Gesicht, sein Herz raste, und manchmal spürte er die Schmerzen im Knie. Das Fett wogte an seinem Körper, doch behäbig setzte er seinen Weg fort, bis ihn spätestens im zweiten Stock die Kraft verließ. Lukas P., 13 Jahre alt und mit einem Gewicht von 140 Kilogramm dreimal so dick wie ein Nilpferd bei der Geburt, konnte sein Klassenzimmer einmal mehr nicht erreichen. Sein Körper hatte es verhindert.

Das ist jetzt vier Jahre her. Der gebürtige Niederösterreicher zählte damals zu jenen Kindern, die die Statistik als „morbid adipös“ bezeichnet: So übergewichtig, dass ihre Gesundheit akut gefährdet ist. Diese Zahl steigt stetig an. Laut einer Studie, die vergangenen Freitag beim internationalen Adipositas-Symposium in Wien vorgestellt wurde, sind mittlerweile 2,1 Prozent aller Wiener Kinder und Jugendlichen von morbider Fettsucht betroffen. Buben stärker als Mädchen, aber am häufigsten Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist.

„Morbid adipöse Kinder sind sehr krank“, sagt Kurt Widhalm, Leiter der Abteilung für Ernährungsmedizin der Wiener Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, wo die Studie verfasst wurde. „Viele bekommen Altersdiabetes, Stoffwechselstörungen und massive Gelenksprobleme. Außerdem sind die meisten von ihnen schwer depressiv.“

Lukas P. kennt das: „Man kann sich nicht vorstellen, was für eine Aggressivität sich aufbaut, wenn man alles in sich reinfrisst“, sagt der heute 17-Jährige. Um Dampf abzulassen, begann er seine Mitschüler zu terrorisieren: „Und wenn ich das in der Schule nicht konnte, dann habe ich die Wut an meiner Mutter ausgelassen.“ Freunde hatte er in dieser Zeit keine: „Natürlich haben mich immer alle verspottet und ausgelacht, weil ich so fett war“, sagt er.

Warum er zum Fresskind wurde, weiß der Junge, der aus einer bürgerlichen Familie in Niederösterreich stammt, auch nicht so genau: „Es war halt typisches Frustessen. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich acht war“, erzählt er. Kurz darauf habe es angefangen: Er aß eine doppelte Portion von jeder Mahlzeit, dazwischen Hot Dogs und viele Süßigkeiten. Irgendwann verbrachte er keine Minute mehr ohne Essen. „Ich war unglücklich, wenn ich nichts im Mund hatte“, sagt er. Sehr oft habe er daraufhin probiert abzunehmen, einmal haben die Eltern (damals wieder verheiratet) sogar den Kühlschrank versperrt. Doch nichts und niemand konnte Lukas stoppen.

Teenager mit 160 Kilo. „Wir müssen aufhören zu glauben, dass solche Kinder allein abnehmen können“, sagt Kurt Widhalm. In der Adipositas-Ambulanz der Kinderklinik arbeitet er mit besonders fettleibigen Kindern und Jugendlichen – vom Zweijährigen mit 14 Kilo bis zum 160-Kilo-Teenager. „Adipositas ist wie Magersucht eine psychische Krankheit, die entsprechend betreut gehört“, sagt Widhalm. Ein multidisziplinäres Team aus Ärzten, Psychologen, Sportmedizinern und Sozialarbeitern kümmere sich um die Kinder. „Sie müssen komplett neue Verhaltensweisen lernen“, sagt Widhalm.

Die Erfolgschancen einer herkömmlichen Diät hält er dennoch für gering. „Wenn irgendjemand im Umfeld des Kindes nicht mitspielt, zum Beispiel die Oma, ist das Ganze zum Scheitern verurteilt, dann fallen die Kinder wieder in ihre alten Essgewohnheiten zurück“, sagt Widhalm. Langfristig sei daher das einzige Mittel gegen Adipositas die Prävention. „Wenn ein Kind schon mit zehn fettleibig ist, ist es zu spät: Das wächst sich nicht aus.“

Die geringen Erfolgsaussichten von Diäten sind ein Grund, warum Ärzte in den vergangenen Jahren immer häufiger Magenoperationen anwenden. Aber auch „die Chirurgie ist keine Lösung für Adipositas“, sagt Gerhard Prager, Chirurg am AKH Wien und Adipositas-Spezialist. „Wir führen Operationen daher nur bei Jugendlichen durch, bei denen alles versucht wurde.“

Magenband und Bypass. Die Mediziner können dabei auf mehrere Möglichkeiten zurückgreifen: Bei der „Magenband“-Operation wird der Magen mit einem Band verkleinert, damit der Patient nicht mehr so viel essen kann. „Das ist aber leicht mit Softdrinks zu umgehen“, sagt Prager. Im Gegensatz dazu wird beim Magen-Bypass eine zusätzliche Verbindung zum Dünndarm gelegt. Die Nahrung kann so nicht mehr gut verarbeitet werden, der Patient nimmt ab. Insgesamt hat Prager in den vergangenen drei Jahren 45 solcher Operationen durchgeführt.

Auch Lukas P. hat sich im Mai 2008 einem Magen-Bypass unterzogen. Doch die Operation verlief mit Komplikationen, weil sich die Wunde entzündete. Mehrere Wochen lag er auf der Intensivstation. „Ich war damals echt ein Wrack“, sagt er heute. Ein Jahr dauerte es, bis er sich von der OP erholte. Und endlich sein neues Aussehen genießen kann. Denn mittlerweile wiegt Lukas 75 Kilo bei einer Größe von 180 Zentimetern. Idealgewicht. Essen kann er jetzt, was er will, nur meistens ist nach wenigen Bissen Schluss, kein Platz mehr. Daher trinkt er zu jeder Mahlzeit Wasser. „Dann passt mehr rein“, erklärt er .

Und auch sonst hat sich viel verändert: Lukas P. hat jetzt Freunde, singt in einer Band und hat eine Lehre als Bürokaufmann begonnen. Nur noch die Haut, die so locker an Oberarmen und Bauch sitzt, erinnert an früher. „Wenn ich jetzt einen Dicken sehe, dann verspotte ich den auch“, sagt Lukas plötzlich. Was ihm die Leute damals angetan haben, das wolle er auch zurückgeben. Und mit dicken Mädchen könne er sowieso nicht. Er will jetzt höher hinaus. Weiter als in den dritten Stock kann er ja jetzt laufen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.05.2011)

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