Akademietheater: Rauschgefühl mit Tschechow

Akademietheater Rauschgefuehl Tschechow
Akademietheater Rauschgefuehl Tschechow(c) APA/HERBERT PFARRHOFER (HERBERT PFARRHOFER)
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"Platonow" wird bei Alvis Hermanis zu einer Herausforderung der Konzentrationskraft. Wer aber durchhält, kriegt von tollen Darstellern ein Übermaß an dekadenter Atmosphäre mit fantastischen Bildern geboten.

Natürlich Birken. Für eine Aufführung von Anton Tschechows namenloser Komödie, die er noch als Schüler ab 1877 in der südrussischen Provinz geschrieben hat, deren Manuskript 1920, erst 16 Jahre nach seinem Tod wieder auftauchte, braucht man Birken. Aber wie viele? Der Vierakter, in dem schon der gesamte dramatische Plan des Frühreifen enthalten zu sein scheint, ist mit 240 Seiten massiv. Ungekürzt könnte man bei dem Stück, das „Die Vaterlosen“, im Deutschen „Platonov“ genannt wird, bis zu zehn Stunden im Theater verbringen.

Der lettische Regisseur Alvis Hermanis setzt in seiner Interpretation, die am Samstag im Akademietheater Premiere hatte, jedenfalls auf Masse. Ein ganzes Birkenwäldchen füllt in einem atemberaubend authentisch wirkenden Bühnenbild von Monika Pormale den Hintergrund, wie eine Tapete aus dem Möbelhaus. Eine großartige Diagonale durchschneidet den Raum: Vorne der hohe, angegraute Salon des Hauses Voijnicev mit Möbeln in altem und neuem Stil, hinten die Veranda, die in besagten Garten und zum Waldrand führt, rechts das Esszimmer – ein Kunstwerk der Simultaneität, denn nur diese eine Kulisse dient der gesamten, sonst mehrere Orte umfassenden Handlung, die auf fünf Stunden konzentriert wurde.

Stundenlang tickt die alte Pendeluhr

Da helfen Birken als Fluchtpunkt. Auch den Zusehern wird nämlich äußerste Konzentration abverlangt. Hermanis schwelgt in Opulenz. Mit 15 exzellenten Schauspielern des Burgtheaters demonstriert er, dass er „Platonov“ zur Gänze erfasst hat; ein Fest für Tschechow und seine dekadenten Müßiggänger. Aber der Theaterbesuch gewaltiger Umbruchszeiten wird einem nicht leicht gemacht. Die russische Leibeigenschaft war bereits abgeschafft, viel alter Landadel samt seiner befreiten Bauern verarmte. Die Revolution ist jedoch nur in Nebensätzen zu erahnen, bei diesen unglücklichen Figuren, die Veränderung ersehnen und oft einen erbärmlichen Abstieg erleiden. Im Speisezimmer tickt die Pendeluhr. Stundenlang.

Und dann noch diese verwickelten Liebesleid-Geschichten! Dieser überbordende Abend ist tatsächlich harte Arbeit. Denn Hermanis kann mit seiner fantastischen Aufführung auch als Vollender des Murmel-Theaters gelten. Salon, Garten und Speisezimmer füllen sich allmählich mit den Darstellern, alle reden oft an allen Orten zugleich, wenn sie nicht gerade alle über lange Strecken in unnachahmlich russischer Art schweigen, sich küssen, tätscheln oder im Laufe des Abends betrunken über die Bühne torkeln. Das Simultane ist eine reale Überforderung, man setzt sich dem Dauer-Versuch aus, unter härtesten Bedingungen zu lauschen – als ob man im überfüllten Wirtshaus wissen möchte, was an den Nebentischen und in größerer Entfernung passiert.

Deshalb ist das märchenhafte Bühnenbild hilfreich. Auf so viel Sprach-Konzentrat kann man als Zuseher nur auf eine Art stilvoll reagieren: sich distanziert zurücklehnen wie in einer Ecke des Salons und für fünf Stunden Tschechow-Stimmung einatmen. Schade, dass es nicht üblich ist, dem Publikum Zigaretten und Cognac zu reichen wie den Darstellern auf der Bühne. Das würde die Atmosphäre noch viel mehr verdichten. So aber sitzt man ungelabt auf der falschen Seite, muss leiden und ergötzt sich trotzdem daran, wie das Ensemble den Untergang einer Klasse feiert. Wer dieses geniale Panorama aus satter Bequemlichkeit versäumt, ist selber Schuld. Er sieht nicht, dass ein kleiner Mann mit schütterem Haar, der scharfsinnige und unglückliche Lehrer Platonow (Martin Wuttke in Bestform), von allen Frauen bis zum Wahnsinn begehrt wird. Was hat der, das der Rest der Männchen auf der Bühne oder anderswo nicht hat?

Heulen um den Casanova

Für jede Affäre findet er einen eigenen Zugang. Die junge Marja Efimovna (Yohanna Schwertfeger) verhöhnt er, sie verfällt ihm schließlich im Garten. Vom Esszimmer aus beobachten ihn die Konkurrentinnen – Generalswitwe Anna Petrovna (Dörte Lyssewski) und Sofja Egorovna (Johanna Wokalek), die Frau des Generalssohnes Sergej Pavlovic (Philipp Hauß). Ihre gar nicht damenhaften Blicke sind pure Sehnsucht, die immer wieder in wildem Gefummel endet. Dazwischen eilt häufig zur Kontrolle Platonows Frau Saša (Sylvie Rohrer) herbei.

Zum Niederknien sind diese Frauen. Fast jede lehnt einmal am Fenster und heult um diesen gejagten Casanova oder um anderen Besitz, selbst die Dienstmagd (Brigitta Furgler). Kein Wunder, dass der Fantasieheld eines Siebzehnjährigen sie alle haben darf und am Laster zugrunde geht. Das ganze Stück nämlich ist eine Bloßstellung der angstgetriebenen Gier, die meist aggressiv wird. Der Jude und sein Sohn (Michael König, Fabian Krüger) zeigen das, ebenso Platonows lächerlicher Schwager (Martin Reinke) und praktisch alle Gutsbesitzer und Nachbarn.

Bei Roland Kenda, Dietmar König, Franz J. Csencsits und Hans Dieter Knebel steigern sich die Schwächen bis zur Farce. Geld oder Liebe! Am schönsten demonstriert bei den Männern Peter Simonischek zwiespältiges Verlangen. Er will die Generalin haben, koste es, was es wolle. Schließlich kollabiert er effektvoll, so wie später auch Platonow. Aber der naive Glagoljev geht eben leer aus und sucht mit seinem Sohn Trost in Paris. „Wenn schon sündigen, dann besser in der Fremde“, sagt er. Und strebt der Birken-Tapete zu.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2011)

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