Irgendwo hinter dem Regen

Aus dem Wien der Nachkriegszeit brachte er den Kozenn-Atlas nach Palästina. In seiner Heimat Israel muss er heute zusehen, wie die zionistische Idee seiner Väter an ihre Grenzen gerät. Moshe Brawer, 92 Jahre alt, Kartograf: Begegnungen in Wien und Israel.

Moshe Brawer, der Besucher aus Tel Aviv, hat Landkarten, Grenzen und Wien im Blut. Wann immer er in seine Geburtsstadt zurückkehrt, sieht der agile 92-Jährige in einen fernen Spiegel. Hier, in der Leopoldstadt, in der Synagoge im ersten Bezirk, am Judenplatz, waren seine aus Galizien stammenden und vor Pogromen nach Wien geflüchteten Vorfahren zu Hause. Sie zählten zur geistigen Elite der blühenden k. u. k. Metropole, in der damals 200.000 Juden lebten. Hier spürt Moshe Brawer seine Wurzeln: seine Liebe zu den Schriften; seine Leidenschaft für Geschichte und Geografie, für Karten und Globen. Der Großvater mütterlicherseits wurde 1899 von der jüdischen Gemeinde zum Oberrabbiner gewählt, sein Vater, Abraham Jakob Brawer, gehörte in jungen Jahren dem international renommierten Kartografenzirkel der Universität Wien an. Das Zeitalter der großen Entdeckungen war zwar längst Geschichte, aber das Magische der Karten wirkte mehr denn je: Europa und der Vordere Orient standen vor einer epochalen Wende.

Im Rhythmus seiner raschen, kleinen Schritte erzählt Moshe Brawer, wie fasziniert sein Vater von den Arbeiten des Orientforschers Alois Musil – eines Cousins Robert Musils – war. Der Forscher und Priester Musil war für die k. u. k. Regierung in heikler Mission unterwegs: Das ramponierte Osmanische Reich, Bündnispartner der Habsburgermonarchie, regierte zwar formell im Nahen Osten, wurde jedoch lang vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges von einer geschickt lavierenden Allianzpolitik der Briten bedrängt. Alois Musil sollte als Gegenspieler des legendären Thomas Edward Lawrence die rumorenden arabischen Stämme für eine Friedenslösung gewinnen. Musil blieb – wie seine Auftraggeber – glücklos. In Wien befinden sich die Zeugnisse dieser Zeit und lotsen Moshe Brawer – etwa in der Kartensammlung der Nationalbibliothek – durch die Welt des Vaters: „Er bewunderte die Arbeiten Musils, dessen umfassende Aufzeichnungenaller arabischen Stämme und Sippen der Region, dessen topografische Beschreibungen. Vor allem interessierten meinen Vater die äußerst präzisen Landkarten Musils von den Ufern des Toten Meeres.“

Dorthin hatte einst Moses die Stämme Israels aus dem ägyptischen Joch zurück in die Heimat geführt. Dieses von Osmanen verwaltete und von Arabern bevölkerte Land bekam an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit Theodor Herzls zionistischer Vision eine brisante Bedeutung. Intellektuelle, Barone, Potentaten, Abenteurer – und auch der junge Brawer – waren fasziniert: Das Land der Vorväter sollte wieder die Heimat der Juden werden! Herzl, der fantastische Realist, der Verfasser des „Judenstaates“, begeisterte. Überzeugte mit dem Argument, der in Europa grassierende Antisemitismus sei Vorbote einer zerstörerischen Zeit, in der Juden nur in einem zionistischen Staat sicher wären. Als Herzl 1904 starb, sah sich der damals 20-jährige Brawer als künftiger zionistischer Fackelträger.

Am Vorabend des Ersten Weltkrieges – während der zweiten jüdischen Auswanderungswelle – emigrierte Abraham Jakob Brawer mit dem Versprechen an seine junge Braut, sie würde ihre Kinder in Wien zur Welt bringen können, nach Palästina. 100 Jahre später erinnert sich Sohn Moshe auf dem Weg vom Josefsplatz zu dem in der Herrengasse gelegenen Globenmuseum: „Mein Vater war ein gläubiger Jude und ein überzeugter Zionist. Für ihn war das kein Widerspruch. Er leitete für den neuen Staat aus dem Judaismus einen humanistischen, politischen Zionismus ab, der Juden und Araber gleichberechtigt miteinander würde leben lassen.“

Die idealistische Einschätzung erwies sich – wie die aktuellen Ereignisse wieder einmal zeigen – als trügerisch. Auch weil die Betroffenen, die palästinensischen Araber, zu einem gemeinsamen, egalitären Staatskonzept nie befragt wurden. Darüber hinaus trafen mit der politisch egalitären Staatsidee des Zionismus und dem geistig-religiösen Verständnis des jüdischen Auserwähltseins gegensätzliche Welten aufeinander.

Schon ist das Portal des Globenmuseums erreicht. Beim Überqueren des Innenhofes beschleunigt der 92-Jährige seine ohnehin raschen Schritte. Er, der vielsprachige Pendler zwischen den Kulturen, der Experte für Grenzziehungen, ist neugierig auf die nüchterne Ästhetik der Weltkugelsammlung in barockem Ambiente; auf den Anblick des ersten, von seinem Vater 1923 mit hebräischer Beschriftung produzierten Globus. Da steht es, das Werk des Abraham Jakob Brawer! Es signalisierte in seiner Zeit hebräisch-zionistische Markierungen – auch wenn Palästina noch britisches Mandatsgebiet war und der Staat Israel erst in einem Vierteljahrhundert gegründet werden sollte. Moshe Brawer umkreist die Vitrine, betrachtet die in gedämpftem Licht stehende Weltkugel, sagt nach einer Weile: „Mein Vater hat eine Miniaturausgabe des Globus auf seinem Schreibtisch stehen gehabt. Oft habe ich daran gedreht, die Kontinente vorsichtig mit meinen Fingern erkundet. Von Zeit zu Zeit hat mir mein Vater erklärt, wie die Welt aussieht. Später sind wir dann auch oft zu den Verwandten nach Wien gereist.“

Entlang der Ringstraße noch einmal ein Zeitsprung in den Mai 1945. Wien lag nach Naziterror und Kriegswahn wie die halbe Welt in Trümmern. Moshe Brawer kam als britischer Offizier in die Stadt. Zuvor hatte der damals 26-Jährige in Bergen-Belsen die traumatischsten Bilder seines Lebens gesehen, als lebendige Skelette wie Gespenster über Leichenberge den Befreiern entgegentaumelten. Die horrenden Opferzahlen der in den KZs Umgebrachten waren noch unvorstellbar. Moshe Brawer wusste aber, dass seine Verwandten rechtzeitig aus Wien nach London geflohen waren.

In dieser prekären Situation besann sich der Offizier seiner kartografischen Leidenschaft: Brawer suchte im Hölzel Verlag die in Sachen Karten und Atlanten langjährigen Ansprechpartner seines Vaters. „Die haben während des Krieges hauptsächlich für die Wehrmacht Karten gedruckt“, sagt der Israeli nüchtern, „aber das war ja dann zu Ende. Mich interessierte der Kozenn-Atlas. Ich wollte herausfinden, ob wir ihn auf Hebräisch herausbringen könnten.Wer im Internet unter Hölzel nachschaut, der sieht, dass dort Moshe Brawer als der Retter des Verlages angeführt wird. Wie auch immer – es war mit Gottes Hilfe.“Durch die bis heute andauernde Kooperation – Hölzel liefert die Daten des legendären Kozenn-Atlas für hebräische und arabische Ausgaben – wurde Moshe Brawer als Kartograf zum Brückenbauer zwischen Österreich und Israel.


Einige Wochen später. Auf der Militärstraße zwischen Tel Aviv und Jerusalem staut sich vor den Checkpoints der Verkehr. Moshe Brawer deutet auf ein arabisches, zwischen den Hügel liegendes Dorf: „Dort haben wir im vergangenen Oktober gutes, günstiges Olivenöl geholt.“ Auf die Frage, ob wir kurz vorbeischauen könnten, schüttelt der noch heute an der Universität Tel Aviv tätige Professor den Kopf: „Unmöglich, dafür braucht man eine Genehmigung – das dauert Wochen.“ Alltag in Israel/Palästina – der Natur zum Trotz: Die Mohnblüte legt rote Teppiche ins Land; Mandel- und Korallenbäume stehen in verschwenderischer Farbenpracht diesseits und jenseits von Elektrozäunen, hermetischen Mauern, provisorischen Grenzen. In zeitlosen Zwischenräumen verwehen Verse: „Der Olivenhain wird in ihren Augen zum Zauber der Stunde; weinen wird er, so ist er's gewohnt . . .“

Der Landstrich, der vom westlichen Ufer des Jordans bald steil ansteigt, um später als karges Hügelland vor den Ostküsten des Mittelmeeres zu verebben, ist traditionellen Juden ihr Gelobtes und den Palästinensern ihr Heimatland. Nüchtern kommentiert der Kartograf: „Für die einen sind das Judäa und Samaria, für die anderen ist das die Westbank. In dieser Gegend, auch am Jordan, sind die Grenzen seit Jahrzehnten nur provisorisch – das hat mit der komplizierten politischen Lage zu tun.“

Der Checkpoint kommt näher. Junge Armeeangehörige mit Helmen und MGs kontrollieren seit den jüngsten Anschlägen auf zivile israelische Ziele verschärft. Mit heulenden Sirenen bahnt sich ein Fahrzeug auf dem Pannenstreifen seinen Weg. Routine im Ausnahmezustand. Auf meine Frage, wie eine Lösung aus Sicht des Experten aussähe, antwortet Brawer: „Schauen Sie, als Jitzhak Rabin Premierminister war, hatte ich in seinem Amtssitz ein Büro, wurde bei wichtigen Grenz- und Landfragen regelmäßig konsultiert. Da ging es oft um die geografische Räson, nicht so sehr um die militärische. So kamen ja auch die Friedensverträge mit Jordanien und Ägypten zustande. Rabin wollte auch mit den Palästinensern Frieden schließen, war zur Zweistaatenlösung in den Grenzen von 1967 bereit. Da kam es schon vor, dass mich Arafat über Mittelsmänner kontaktierte, sich über Detailfragen erkundigte. Die gegenwärtige Regierung interessiert das alles nicht. Fragt auch um keinen Rat. Sie setzt auf Zeit und auf den provisorischen Status des latenten Konfliktes.“

Seit der Ermordung Rabins im November 1995 durch einen ultrareligiösen Juden ist in Israel für viele die Friedenshoffnung erloschen. Der alte Mann sinkt in sich zusammen, blickt stumm vor sich hin. Könnten die Revolten in der arabischen Nachbarschaft therapeutisch auf den gefährlich in das religiös-nationalistische Lager abdriftenden israelischen Staat wirken? Könnten die vom Dauerkonflikt Ausgelaugten gar die Ängste voreinander verlieren?

Nachrichten aus Kairo und Tunis ermutigen, jene aus Libyen und Syrien erschrecken. Und die Palästinenser – wie reagieren sie? Versiert und strategisch geläutert: Die rivalisierenden Lager, die säkulare Fatah und die islamistische Hamas, haben jüngst in Kairo Frieden geschlossen. Seither liegen im offiziellen Israel die Nerven blank. Der konservative Staatschef Netanjahu titulierte die innerpalästinensische Annäherung als „Sieg des Terrorismus“ und heizt alte Ressentiments an.

Moshe Brawer bleibt wortkarg. Draußen ziehen hinter meterhohen Stacheldrahtzäunen Szenen jüdischen Siedlungsbaus in der seit 1967 von Israel besetzten Westbank vorbei: Kräne, Trucks roboten im Eiltempo, signalisieren nach der Ermordung einer israelischen Siedlerfamilie den Palästinensern: „Ihr tötet! Wir bauen! Euren Staat Palästina wird es nie geben!“ Die Fakten bestätigen: Von den 2,4 Millionen Bewohnern der Westbank sind 400.000 jüdische Siedler – Tendenz steigend. Die zermürbte palästinensische Führung ist empört, hat seit dem Ende des Siedlungsbaustopps alle Verhandlungen ausgesetzt. Junge Radikale in Ramallah und Gaza beschwören bereits die dritte Intifada. Die Revolte der arabischen Brüder soll für einen freien Staat Palästina über die Grenzen getragen werden.

Der 14. Mai – als Gründungstag Israels für die Araber „nakba“, die Katastrophe – ist neuerdings wieder Tag des Kampfes: „Auch wenn Blut fließt, stürmt die Grenzen! Tod den Zionisten!“ Die Lage ist so explosiv, dass der US-amerikanische Nahost-Sonderbeauftragte resigniert aufgibt. Dass miteinander nicht mehr geredet wird, spürt auch Moshe Brawer seit einiger Zeit: Langjährige palästinensische Mitarbeiter seines Instituts beantworten keine E-Mails mehr, heben kein Telefon ab. Das schmerzt den Mann, der fließend Arabisch spricht, der stets – im Geist seines Vaters – arabische Kontakte gepflegt hat. Sollte er gegen Ende seines bald hundert Jahre währenden Lebens erfahren müssen, wie sich ein isolationistisches Israel der neuen Zeit verweigert? Wie der zionistische Staat an seine Grenzen gerät?

Der Himmel überschwemmt die Erde: Es schüttet aus tief hängenden, schwarzgrauen Wolken. Für Augenblicke verschwindet die strapaziöse Außenwelt. Atempause. Schritttempo. Irgendwo, hinter der weißen Regenwand, zwischen Mythos und Geschichte, liegt Jerusalem. Für Moshe Brawer ist die Stadt mit dem Gold der Kinderjahre verbrämt. Im steinernen Familienhaus weihte ihn sein Vater Abraham mit alten Karten und Stichen, mit neuen kartografischen Erkenntnissen in seine Welt ein; er las ihm aus dem Talmud und den Büchern Moses vor. „Mein Vater“, sagt der Sohn, „hat mir unsere Religion, den Judaismus, als die vielleicht höchste Form der Menschlichkeit nahegebracht und den Psalm ,Ihr werdet vor mir sein ein Königreich von Priestern und ein geheiligtes Volk‘ als Auszeichnung und Bürde erklärt.“

Auf einem Wegweiser steht „Mount Of Olives“ – Ölberg. Der Regen lässt nach, Licht bricht durch ein Wolkenfenster. Und dann: Der Blick auf die irdisch himmlisch ausgebreitete Stadt! Die Wiege der drei monotheistischen Religionen erhebt sich hoch über ihren Tälern auf dem Schlachtfeld seiner Geschichte. Auf dem Plateau, das einst den Tempel Salomons trug, steht heute der Felsendom – nach Mekka und Medina der drittheiligste Ort des Islam. Seine mächtige Goldkuppel schimmert im Zwielicht. Moshe Brawer folgt dem eisernen Geländer, lässt seinen Blick über das Meer weiß gewaschener Gräberfelder schweifen. Steine liegen auf den Grabdeckeln; auf einem hockt ein Rabe, flattert auf, als ein Militärhubschrauber dröhnend hinwegdonnert. Der alte Mann schaut zu mir und sagt: „In dieser Reihe da unten liegt mein Vater begraben. Er ist 1975 mit 91 Jahren gestorben. Früher bin ich regelmäßig hergekommen. Aber seit Orthodoxe für den Friedhof verantwortlich sind, ist es kompliziert geworden, die Toten zu besuchen.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2011)

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