War in Wirklichkeit alles ganz anders?

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Kaum war IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn verhaftet, schossen schon erste Verschwörungstheorien ins Kraut. Wie entstehen solche Gedankengebäude? Und lassen sich deren Erfinder von Fakten beeindrucken?

Jemand muss „DSK“ verleumdet haben. So, wie es das Zimmermädchen geschildert hat, kann es doch nicht gewesen sein. Und: Sie ist wohl nur das letzte Glied in der Kette, kann sich die ganze Geschichte – dass ein intelligenter Mann wie IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn versucht habe, sie in seiner Suite zu vergewaltigen – einfach nicht allein ausgedacht haben. Da muss doch noch jemand anderer dahinterstecken. Jemand wirklich Mächtiger. Jemand, der Strauss-Kahn aus dem Verkehr ziehen wollte. Feinde hat so einer ja genug. Und wie kommt es, dass konservative Kreise die Ersten waren, die über den Übergriff des Sozialisten berichteten?

So oder nach ähnlichem Muster laufen zahlreiche Erklärungsversuche, die vor allem in Frankreich nach der Festnahme von IWF-Chef Dominique Strauß-Kahn wegen versuchter Vergewaltigung in New York vorgenommen wurden. DSK ist mittlerweile aus der Untersuchungshaft entlassen und wartet im Hausarrest auf seinen Prozess.

Der honorige Ex-Minister, qua Amt einer der mächtigsten Menschen der Welt, als Sextäter? Die Hälfte der Franzosen, die ihren Politikern in diesen Dingen traditionell viel durchgehen lassen, kann sich das nicht vorstellen, sondern glaubt an ein Komplott oder eine Falle. Auch politische Gegner denken so: DSK sei „auf einer Bananenschale ausgerutscht“, die man ihm hingelegt habe“, sagte etwa Dominique Paillé, Ex-Sprecher der Sarkozy-Partei UMP.

Zunächst nur ein Fall für die Justiz, wurde die „Affäre DSK“ schnell zum Fall für Verschwörungstheoretiker. Dem hatte der mittlerweile Angeklagte selbst Vorschub geleistet, indem er schon im April gegenüber der Zeitung „Libération“ von einem möglichen Komplott gegen sich gesprochen hatte. Sein Szenario: „Eine Frau, angeblich auf einem Parkplatz vergewaltigt, der man 500.000 oder eine Million Euro versprach, um eine solche Geschichte zu erfinden.“

Das Problem: Es gibt nur zwei Leute, die wissen, was an jenem Tag in Suite 2806 wirklich geschah. Für Verschwörungstheorien ein günstiger Ausgangspunkt. Auch sonst hat der Fall zwei wichtige Ingredienzen: „Sie brauchen einen ,Schurken‘, der zu einer solchen Verschwörung imstande wäre und dem Sie das auch zutrauen würden“, erklärt Thomas Grüter, studierter Mediziner und Buchautor, der sich seit Jahren mit dem Phänomen beschäftigt. Bei DSK stehen zur Auswahl: Neider in der eigenen Sozialistischen Partei, die selbst für die Präsidentschaft kandidieren wollen, Nicolas Sarkozy, der nach allen Umfragen gegen Strauss-Kahn verloren hätte, und nicht zuletzt Leute oder Länder, denen er als Chef des Internationalen Währungsfonds auf die Füße getreten ist.


Jeder ist anfällig. Zweitens brauche man laut Grüter ein Ereignis, dessen offizielle Version nicht vollständig einleuchte. Bei Strauß-Kahn kann das die Überlegung sein, dass er sich zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse ja an eine einschlägige diskrete Agentur hätte wenden können statt seine guten Präsidentschafts-Chancen aufs Spiel zu setzen. Grüter: „Jeder Mensch neigt unter bestimmten Umständen zu Verschwörungstheorien, etwa wenn die offizielle Version sein Weltbild erschüttert.“

Einschlägige „Schurken“ für vermutete Verschwörungen sind historisch Juden und Freimaurer, in neuerer Zeit die diversen Geheimdienste, allen voran CIA und – als „jüdischer Geheimdienst“ quasi doppelt verdächtig – der Mossad. Bei den Geheimdiensten ist die Sache insofern knifflig, als sie ja ihrem Auftrag gemäß tatsächlich konspirative Operationen durchführen: „Verschwörungen hat es immer gegeben, aber nicht unbedingt so, wie sich das die Verschwörungstheoretiker vorstellen“, meint Experte Grüter. Diese vermuten meist ein riesiges Netz an Beteiligten und Eingeweihten, siehe die krausen Theorien rund um die Anschläge vom 11.September 2001. „Doch schon Macchiavelli hat gesagt, dass eine Verschwörung desto gefährdeter ist, je mehr Leute daran beteiligt sind.“ Man hält die Zahl der Mitwisser also so klein wie möglich.

Wo Kriminalisten Daten bzw. Ermittlungsergebnisse zusammensetzen, um zu einer These zu gelangen, arbeitet der Autor einer Verschwörungstheorie umgekehrt: Er hat die These und sucht nach Indizien, sie zu untermauern. Oft wird dabei schlampig recherchiert (etwa wenn es um die leicht widerlegbare Behauptung geht, bei 9/11 seien keine Juden gestorben), was nicht ins Konzept passt, wird weggelassen. Stößt man auf schwer zu leugnende Widersprüche, wird das auf ein perfides Vorgehen des „Schurken“ zurückgeführt. Wobei es einen Unterschied gibt: Anhänger von Verschwörungstheorien seien durchaus durch Fakten zu beeindrucken, etwa ein Geständnis Strauss-Kahns, meint Grüter: „Die Erfinder der Theorien sind hartnäckiger. Sie finden eigentlich immer eine Hintertüre, um ihre Version doch noch durchzubringen.“


Selbstläufer. Paranoid im medizinischen Sinne sind diese Menschen freilich keineswegs. Bei ihnen ist lediglich eine gesunde Skepsis gegenüber offiziellen Darstellungen zum Selbstläufer, zum ausschließlichen Denkprinzip geworden. Den Unterschied zum Verfolgungswahn sieht Mediziner Grüter in einem wesentlichen Punkt: Der Paranoide glaube, dass die Verschwörung gegen ihn selbst gerichtet ist. Er glaubt nicht, dass die CIA das World Trade Center zerstört habe, damit die USA den Irak angreifen könnten, sondern dass die CIA ihn töten wolle. Und dieser Glaube ist systematisch – im Extremfall führt er also jedes Ereignis seines Lebens auf diese eine Ursache zurück.

Der ideale Katalysator für Verschwörungstheorien ist das Internet: Wo die Quelle von Informationen oft nicht überprüft werden kann, wo das Copy-and-paste-Prinzip regiert, wo einmal Lanciertes nicht einfach zurückgezogen werden kann, dort breiten sich auch Verschwörungstheorien ungehemmt aus. Wie immer der Fall Strauss-Kahn ausgeht, ob DSK schuldig gesprochen wird oder sich erweist, dass er tatsächlich reingelegt wurde: Im Gedächtnis des Internets bleibt beides tausendfach erhalten: der Vergewaltigungsvorwurf und die Komplott-Hypothese.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2011)

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