Warum wird das Papier nicht nass?

Die künftige Rolle Österreichs im globalen Wettbewerb entscheidet sich an vielen Schauplätzen. Über spielerisch-experimentelles Lernen mit der „Technik-Box“: Reportage aus einer oberösterreichischen Volksschulklasse.

Plötzlich wird es ganz leise in der Klasse. Die Kinder sind mit ihren Sesseln nach vorne, fast an die Tafel gerückt und sitzen in mühsam zurückgehaltener Spannung eng aneinandergedrängt. Die Frau Lehrerin hat auf einem Tisch ihr Experiment aufgebaut und beginnt mit der Show. Langsam zerknüllt sie ein Blatt Papier und steckt es in ein Trinkglas. Dann senkt sie dieses umgedreht, mit der offenen Seite nach unten, in ein mit Wasser gefülltes Aquarium. Als sie das Glas wieder heraushebt und den Papierknäuel herumreicht, wundern sich die Kinder, und schon steht die Frage an der Tafel: „Warum wird das Papier nicht nass?“ Jetzt müssen die kleinen Forscher – am Saisonende der ersten Klasse sind die meisten sieben Jahre alt – ihre Thesen entwickeln. „Wir haben solche Sätze schon gehabt“, fordert die Lehrerin. „Das Papier ist nicht nass, weil...“

Die erste, handfeste Vermutung bringt ein Bub im unüberhörbar oberösterreichischen Idiom: „Da ist ein Boden drauf am Glasl.“ Auch eine unsichtbare Haut wird vermutet, die das Papier vor der Feuchtigkeit schützt. Dann wiederholt die Lehrerin ihren Versuch und neigt das untergetauchte Glas mit dem Papier ein wenig zur Seite – Blasen steigen blubbernd auf. „Da ist ja Luft drin.“ – „Sehen wir die Luft? Nein. Aber trotzdem ist sie da. Und dort, wo Luft ist, kann nichts anderes sein, auch kein Wasser.“ Die Lehrerin veranschaulicht die Theorie noch einmal: „Da steht die Lisa, und genau dort, wo sie steht, kann der Janis nicht stehen. Vielleicht neben ihr oder vor ihr, aber nicht, wo sie ist. Und genau so ist es mit der Luft, sie braucht ihren eigenen Platz.“

„In einer ersten Klasse mache ich diese Versuche mit Luft zum ersten Mal“, erzählt Heidrun Hubinger anschließend. „Es ist aber eine sehr aufgeweckte Klasse, in jeder Hinsicht. Mit anderen Themen, etwa elektrischem Strom oder Chemie, beginnen wir erst später.“ Frau Hubinger unterrichtet in der Volksschule von Altenberg, einer 4000-Seelen-Gemeinde im Mühlviertel, wenige Kilometer nördlich von Linz. Und Frau Hubinger arbeitet hier, in der ländlichen Idylle zwischen Obstbäumen und Pfarrkirche, bescheiden, aber konsistent an der künftigen globalen Wettbewerbsfähigkeit des Landes.

Die Werkzeuge dafür findet sie in einem Schrank auf Rollen, mit orangefarbenen Seitenwänden und blauen Laden, wie er bei einem Autoelektriker stehen könnte oder in der Instandhaltungsabteilung eines Maschinenbauers. „Technik-Box“ heißt das Ding, und darin verbergen sich Unterrichtsmaterialien und Experimentiersets zu Themen wie Luft, Wasser und Wärme, Feuer, elektrischem Strom, Magnetismus oder Mechanik, zu Tönen oder Chemie.

„Diese Themen sind eigentlich fast alle im Sachunterricht der Volksschule vorgesehen“, erklärt Barbara Bamberger, die für die Education Group GmbH, eine Tochtergesellschaft des Landes Oberösterreich, das Projekt „Technik-Box“ betreut. „Es ist eine praktische Hilfestellung für die Lehrerinnen und Lehrer, um den Kindern schon im Volksschulalter Technik und Naturwissenschaften näherzubringen.“

Die Gründe dafür, diese atypischen Unterrichtsmittel erst zu entwickeln und dann auch breit in den Grundschulen anzubieten, waren folgende: „Erstens haben die Materialen zum Experimentieren gefehlt“, so Bamberger. Bei neugierigen Kindern Technik nur theoretisch aus Büchern zu vermitteln schöpfe die Möglichkeiten bei Weitem nicht aus. Der zweite Grund sei bei den Vermittlern selbst gelegen. Bamberger: „An unseren Volksschulen unterrichten zu 90 Prozent Lehrerinnen. Und viele von ihnen haben sich über diese technischen Themen nicht so recht drübergetraut.“ Zusätzlich zu den praktischen Ausstattungen, zu den Bechern, Kabeln und Pipetten für unterschiedliche Experimente, liegen jeweils Ordner mit Hintergrundmaterial für die Pädagogen zum Einlesen bereit. Wer es wünscht, kann sich in Seminaren gezielt auf die Arbeit mit der „Technik-Box“ einschulen lassen.

Bei Heidrun Hubinger findet sich kein Hauch von Scheu oder Unsicherheit dem Thema gegenüber. Sie war eine der ersten, die diese Anleitung erhalten hat, Altenberg gehörte zu den Pilotschulen, an denen das Projekt im Jahr 2006 gestartet wurde. Und sie erinnert sich auch an manche der Experimente, die im Kollegenkreis erst einmal ausprobiert werden mussten. „Nicht alle haben sich so geschickt angestellt wie heute die Kinder.“

Diese lernen gerade erstmals, in Versuchen protowissenschaftlich zu arbeiten, die Abläufe der Lehrerin kontrolliert nachzuvollziehen, selbst zu schauen, ob sie das Papier trocken halten können. Erst bekommen sie – jeweils in Zweiergruppen aufgeteilt – bunte Bänder um den Hals wie akkreditierte Sportjournalisten am Hahnenkamm. Doch statt des Presseausweises steckt in der Plastiktasche am Ende ein kleines Kärtchen, auf dem mehrere Luftballons aufgezeichnet sind. Die symbolisieren die einzelnen Experimentstationen, und wer sie absolviert hat, macht ein Hakerl auf dem jeweiligen Ballon.

Die gespannte Ruhe des Unterrichtsbeginns hat sich längst aufgelöst in wuselige Geschäftigkeit. Während an einer Station zwei Buben hoch konzentriert ihre Gummibärchen unter Wasser bringen, blasen an der nächsten ein Mädchen und ein Bub prustend Seifenblasen durch den Schulgang. Eine zarte rotblonde Siebenjährige testet erstaunt, welch starke Sogwirkung sich mit einer einfachen Plastikspritze ohne Nadel in der Handfläche erzeugen lässt, und eine weitere Arbeitsgruppe hält mit einem Föhn Tischtennisbälle in der Schwebe. Dann wird getauscht, neue Teams finden ihre neuen Aufgaben.

„Es geht nicht darum, ein bestimmtes Programm rezeptartig abzuarbeiten“, kommentiert die „Technik-Box“-Managerin Bamberger. „Die Kinder sollen lernen, konkrete Problemstellungen zu erkennen, Hypothesen aufzustellen, warum etwas funktioniert, egal ob das jetzt eine Seifenblase ist oder ein Regenbogen.“

Die „Technik-Box“ selbst ist keine einzelne Seifenblase. Seit den Anfängen vor fünf Jahren wurde sie bereits an 420 oberösterreichische Volksschulen geliefert, das sind immerhin 70 Prozent aller Volksschulen. Wichtig dabei ist, dass die Materialien auch verwendet werden und der gefüllte Ladenschrank nicht unbenutzt in einem Depot steht. „Die Ausstattung einer Box kostet rund 1800 Euro“, erzählt Bamberger. „Mit Sponsorengeldern aus der Wirtschaft haben wir das auf 250 Euro reduzieren können. Aber die Schulen müssen dafür bezahlen, wenn sie die ,Technik-Box‘ anfordern. Was nichts kostet, ist auch nichts wert.“

Insgesamt 1000 Sponsoren haben sich in ganz Oberösterreich für die Unterstützung der Box gefunden. Das sind neben den Regionalbanken erst einmal die großen industriellen Leitbetriebe des Landes wie die Voestalpine in Linz, das BMW-Motorenwerk in Steyr, der Feuerwehrauto-Hersteller Rosenbauer in Leonding oder der Schweißgeräte- und Solartechnik-Spezialist Fronius in Wels. In diesen Unternehmen kennt man schon jetzt Facharbeitermangel und unbesetzte Technikerpositionen. Und längst sind in der Industrie Mechanik und Elektronik zusammengewachsen – zu einer hochkomplexen und alle Beteiligten fordernden neuen intelligenten Branche: am offensichtlichsten erkennbar im oberösterreichischen Mechatronik-Cluster, der Unternehmen und Forscher an gemeinsamen Projekten arbeiten lässt.

Das wird auch eine jener Nischen sein, die Österreich mittelfristig im weltweiten Wettbewerb Chancen bietet. „Genau das ist unsere Besonderheit gegenüber einer globalen Konkurrenz: die Verbindung aus hochpräziser mechanischer Fertigung und der dazugehörenden elektronischen Steuerung.“ So definiert Alfred Hutterer, Geschäftsführer der Österreichtochter des deutschen Maschinenbauers Trumpf, die Alleinstellungsmerkmale seines Unternehmens – und damit auch gleich jene einer ganzen Reihe ähnlicher hoch spezialisierter Maschinenbauer. Aber es sind noch andere als die auf die Weltmärkte ausgerichteten Industriellen, die sich um den Nachwuchs sorgen. Um auf die 1000 Sponsoren für die „Technik-Box“ zu kommen, mussten sich auch zahlreiche kleine Gewerbebetriebe dazu bereit erklären: Tischler und Stahlbauer, Mechaniker und Firmen des Baunebengewerbes. Die Organisatoren wiederum verbinden mit ihrem Projekt emanzipatorische Ideen. Selbst unter den am Arbeitsmarkt verzweifelt nachgefragten Mechatronik-Absolventen der Linzer Uni finden sich erst wenige junge Frauen, und Technikschulen wie Lehrwerkstätten der Industrie sind einstweilen noch fest in männlicher Hand.

„Ich sehe überhaupt keinen Unterschied beim Interesse zwischen Buben und Mädchen“, meint die Altenberger Lehrerin Hubinger. „Wir organisieren seit einiger Zeit gezielte Aktionen gemeinsam mit Unternehmen, bei denen Mädchen der sechsten Schulstufe – also Zwölfjährige – in technische Jobs hineinschnuppern können.“ Dabei zeigt man ihnen bei Firmenbesuchen nicht nur die Büros, sondern lässt sie auch in den Lehrwerkstätten etwas praktisch ausprobieren, nimmt ihnen die Scheu. Eine erste Untersuchung hat gezeigt, dass von den Mädchen, die an einem solchen Programm teilgenommen hatten, ein Viertel entweder eine technische Lehre oder eine technische Schule begonnen hat. In einer Kontrollgruppe ohne diese Erfahrung lag der Prozentsatz bei null.

Frau Hubinger weiß genau, wie sie schnell Ordnung ins Gewusel bringt. Langsam beginnt sie, rhythmisch zu klatschen, und eines der Kinder nach dem anderen fällt in den Takt ein. Wie sich Eisenspäne zum Magneten ausrichten, wendet sich die Aufmerksamkeit in eine Richtung – zur Tafel hin. „Seid ihr alle bei mir?“ Jetzt beginnt die Nachbereitung des Gelernten, und die Kinder kennen die Vorgangsweise der kurzen Session bereits, nicht unähnlich jener unter Anzugträgern in Managementseminaren. Im hinteren Teil der Klasse bilden sie stehend einen Kreis, die Lehrerin legt drei orangefarbene Zettel auf den Boden, auf denen jeweils ein Satz beginnt, der fertigzustellen ist: „Ich weiß...“, „Ich habe...“, „Mir hat...“ Zuerst kauen sie ein wenig herum an den möglichen Antworten, doch dann finden sie schnell hinein in die Aufgabe: „Ich weiß, dass in den Seifenblasen Luft ist und im Stein nicht, denn der geht im Wasser unter.“ „Ich habe an fast allen Stationen mitgemacht.“ „Mir hat es sehr, sehr gut gefallen.“ Nächste Woche wird ihnen Frau Hubinger zeigen, dass etwas auch auf dem Wasser schwimmen kann, ohne dass es zappelt und ohne dass Luft drinnen ist. Und sie freuen sich schon sichtlich auf die nächste Technikstunde. Ob einmal ein konkreter Arbeitsplatz in der künftigen Wirtschaftswelt daraus wird, lässt sich noch nicht sagen. Dass die Milch nicht aus dem Packerl kommt, das wissen sie hier auf dem Land. Und dass der Strom nicht in der Steckdose wohnt, das werden sie auch wissen, wenn sie aus der Volksschule aufsteigen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2011)

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