Die Macht von Arabizi

Das Erstaunliche an den derzeitigen Umbrüchen ist nicht, dass sie stattfinden, sondern dass sie erst jetzt stattfinden. Warum ließen sich die arabischen Völker so lange ihrer Rechte als Bürger und der Früchte ihrer Arbeit berauben?

Viele Gründe mag es geben, dass es so vielen Potentaten jahrzehntelang gelungen ist, Millionenvölker in politischer Unmündigkeit zu halten und auszuplündern. Da sind zunächst die altbekannten Methoden und Techniken undemokratischer Herrschaftspraxis wie Wahlfälschung, Missachtung von Menschenrechten, Folter, Überwachung, fehlende Gewaltentrennung, Stärkung des Militärs durch Privilegien, Schwächung der Zivilgesellschaft durch Niedriglöhne und geringe soziale Absicherung – und nicht zuletzt Duldung und Unterstützung durch westliche Regierungen.

So unterschiedlich die einzelnen Länder sein mögen, die im arabischen Frühling erwachen, so ähneln ihre Regime einander doch in gewissen Methoden der Unterdrückung, die auch in den Bildungs- und Informationspolitiken liegen – neben der üblichen staatlichen Überwachung und Steuerung von Medienlandschaften.

So sind die Schulsysteme in verschiedenen arabisch-islamischen Ländern nicht unbedingt darauf ausgerichtet, die Untertanen zu kritischen Bürgern zu erziehen, die womöglich das gesamte herrschende System in Frage stellen könnten. Da dominiert Frontalunterricht, da gebietet die Lehrkraft und wird respektiert, da wird Wert gelegt auf Auswendiglernen, da soll alles seine Richtigkeit haben, und richtig ist, wie es von alters her erprobt ist. Nicht Entscheidungen werden verlangt, sondern es wird nachgekaut, was vorgegeben ist. Meinungspluralismus wird da nicht als wünschenswerte Kategorie vermittelt, ebenso wenig, dass Kinder, Jugendliche, Studierende Dinge hinterfragen, Vor- und Nachteile abwägen, Entscheidungen treffen.

Das Erlernen von Teamfähigkeit und Konsensfindung bei Berücksichtigung multipler, einander widersprechender Fakten, Meinungen, Interessen ist ein angestrebtes – und oft nicht erreichtes – Bildungsziel in demokratischen Systemen, nicht jedoch unter diktatorischen Regimen, denen es kaum wünschenswert sein kann, differenzierendes Denken zu schulen. Desgleichen sind die internen Strukturen autoritärer Herrschaftssysteme nicht darauf angelegt, Widerspruch zu dulden oder gar herauszufordern. Wer oben ist und wer unten, ist klar definiert, und der Untere hat den Oberen nicht zu kritisieren oder womöglich seine Entscheidungen in Frage zu stellen.

Das gilt in der Familie, in der Schule, auf dem Arbeitsplatz, in der Politik, in der Religion und auf dem Fußballfeld. Und wenn Interessensgruppen, soziale Bewegungen, subversive Strömungen versuchen, von den Seiten her das hierarchische System horizontal zu unterlaufen, dann existieren sie nur so lange, wie sie den realen Machthabern in die Konzepte passen.

Entscheidungen werden oben gefällt und, soweit erforderlich, nach unten kommuniziert. In den Informationspolitiken werden die gleichen Mechanismen angewandt wie in der Schule. Ein Ministerium verkündet etwas. Basta. So ist das eben. Die Bevölkerung nimmt es zur Kenntnis. Damit ist der Fall erledigt.

Wenn aber in einem demokratischen Land eine Volksvertretung oder sonst jemand vorsichtig eine Ankündigung wagt, wie man eine bestimmte Sache in Angriff nehmen könnte, meldet sich sofort eine Anzahl von Interessensgruppen zu Wort, die – gefragt und ungefragt, pro und kontra – Wortspenden deponieren. Fachleute, NGOs, Universitäten, Gewerkschaften, Kammern, Parteien, Kirchen, Verbände und Vereine, alle haben eine Meinung. Zeitungen schreiben dafür und dagegen, das Fernsehen organisiert eine Talkshow und hält den Leuten in den Fußgängerzonen Mikrofone vor die Münder. Eine Debatte ist geboren. Sie kann sich über Monate hinziehen, manchmal über Jahre. So komplizierte, langwierige Entscheidungsfindungsprozesse sind nicht erwünscht vom Iran über Syrien und Jemen bis nach Marokko. Das kennen die Leute dort nur aus dem Satellitenfernsehen, wenn über demokratische Länder berichtet wird.

Wer hingegen in einem sozialen Klima heranwächst, das Debatten begünstigt, erfährt von Kindheit an, dass manche Fragen viele Antworten zulassen, dass Widersprüche einander nicht zwingend ausschließen, dass zwischen Schwarz und Weiß Grauwerte vermitteln, dass zwischen Lüge und Wahrheit ein breites Spektrum an Möglichkeiten liegt, dass Subjektiv und Objektiv verschwimmen, dass Richtig und Falsch nicht immer zu bestimmen sind und dass Wahrnehmungen abhängig sind von Interessen.

Trotz widriger Bedingungen hat es auch in arabisch-islamischen Ländern durch die Jahrzehnte immer wieder Versuche von geistigen Umbrüchen und politischen Aufbrüchen gegeben, sind in manchen Regionen die Universitäten politisiert, in anderen die Moscheen, gibt es kritische Wissenschaften, agieren diverse gesellschaftliche Kräfte und verfolgen ihre Ziele. Aber sie taten es heimlich und lautlos. Soziale Bewegungen, die sich nicht instrumentalisieren lassen – da hat man Methoden, auch sie von alters her erprobt.

Doch seit Kurzem funktionieren sie nicht mehr. Seit sich plötzlich und unerwartet und zur größten Überraschung von Nahostexperten, Politikwissenschaftlern und Geheimdiensten ganze Völker erheben, wird auch diskutiert, wie groß der Anteil von Facebook und Co. an den erfolgreichen und gescheiterten Aufständen tatsächlich ist. Da liegen die Ansichten weit auseinander, denn es sind immer noch Menschen, die Revolutionen machen und nicht Medien, wie beispielsweise der Medienanthropologe Philipp Budka in der „Presse“ ausführte.

Es sieht immerhin danach aus, als förderten diese sogenannten sozialen Netzwerke eine Art von Denken, das die autokratischen Systeme verkümmern lassen. Denn da darf man und soll man widersprechen. Da müssen unentwegt Entscheidungen getroffen werden, mag ich das oder mag ich es nicht, gefällt es mir oder nicht, antworte ich oder nicht, und jede Dummheit wird sofort von anderen kommentiert und kritisch beleuchtet – und falls nicht, ist auch dies eine Antwort, die es wieder zu reflektieren gilt. Außerdem muss man lernen, seine Gedanken kurz und präzise in wenige Zeichen zu fassen. Ganz anders geht es da her als in einer traditionellen arabischen Schule, in der Lehrer und Lehrerinnen Respektspersonen sind, denen ebenso wenig zu widersprechen ist wie auf der familiären Ebene den Eltern und auf der politischen Bühne den Machthabern, seien sie durch Wahl, durch Militär oder durch Erbfolge installiert.

Zudem befleißigt sich Facebook egozentristischer Perspektiven. Da lautet die zentrale Frage, wenn man aufdreht: Was machst du gerade? Und nicht: Welche Probleme stehen gerade in der erweiterten Großfamilie an? Da konstruiert man sich sein Ich, so wie man es gerne hätte. Weit weniger als im realen Alltag muss man sich so präsentieren, wie die Verwandtschaft einen haben will. Vielleicht befördert das Web 2.0 nicht nur die Möglichkeit, sondern auch das Bedürfnis, sich selbst als Individuum zu betrachten und nicht nur als jemanden mit Rechten und Pflichten innerhalb eines sozialen Verbandes.

Hinzu kommt die Rolle der Sprache. Nicht richtig Hocharabisch zu beherrschen ist ein Stigma, das einen in Gesellschaften, in denen gar nicht wenige bloß des lokalen Dialektes mächtig sind, den Unterschichten zuordnet. Im Web 2.0 aber, da braucht man sich nicht zu genieren, wenn man wegen mangelhafter Schulbildung weder ordentlich Arabisch, noch ordentlich Englisch kann, denn so ergeht es vielen, da befindet man sich in gleich gesinnter Gesellschaft von Millionen. Da schreibt man eben einen Satz so, einen so und den nächsten in coolem Arabizi (von „arabic“ und „easy“), dieser neuen Schrift für die arabische Sprache, die sich überhaupt erst mit den neuen Medien entwickelt hat. Da nimmt man die lateinischen Buchstaben und für jene Buchstaben, die bloß im Arabischen existieren, bedient man sich der Ziffern. So ziemlich jedermann und jedefrau mit Zugang zu neuen Medien beherrscht inzwischen das neue Schreiben, es ist einfach so entstanden, plötzlich war Arabizi da und erfreut sich in Chat, SMS, in den Foren und Blogs, auf Facebook und beim Twittern größter Beliebtheit. Und jene elegante Sprache, auf die die Gelehrten, die Dichter und die Prediger so viel Wert legen, die aber breite Massen ausschließt, ist beim Posten gänzlich unwichtig. In diesem Sinne sind die neuen Medien demokratiefördernd, weil sie vielen die Teilhabe ermöglichen.

Im Übrigen könnte man die üblich gewordene Nutzung von lateinischen Buchstaben für die arabische Sprache als weiteren Hinweis dafür deuten, dass es in diesen Revolutionen kaum um Religion geht, falls es eines solchen noch bedarf. Denn ein religiös legitimierter Umsturz, der in lateinischen, also westlichen Buchstaben organisiert wird – das klingt ziemlich paradox, wenn man bedenkt, dass etwa Gebete bloß auf Arabisch erfolgen und der Koran Muslimen ohnedies als unübersetzbar gilt.

Einen gewissen Anteil an den Volkserhebungen wird man also den technologischen Neuerungen, die die virtuellen Welten schufen, zuschreiben können, nicht nur in organisatorischer, sondern auch in kognitiver Hinsicht, indem sie jene Fähigkeiten befördern, die die Aufstände ermöglichen, und nicht zuletzt, weil sie breiten Bevölkerungsschichten die Teilnahme ermöglichen.

Nicht zu vergessen auf der Informationsebene sind al-Jazeera, al-Arabiya und Wikileaks. Die Fernsehsender haben Millionen gezeigt, dass man auch über die arabische Welt so berichten kann, dass man etwas erfährt. Und Wikileaks hat das ganze Ausmaß von Sumpf und Filz aufgezeigt, hat die regierenden Systeme als Kleptokratien auf Kosten der Völker entlarvt, hat insbesondere die Entourage von Präsidenten und ihre Machenschaften öffentlich gemacht, die Vernetzungen von Banken, Industrien, Palästen durchleuchtet, mafiaartige Strukturen bloßgelegt.

Nach der These des französischen Politologen Olivier Roy sind die arabischen Revolutionen postislamisch, es geht nicht um Religion, nicht mehr um die gewohnte Verteufelung von Israel und Amerika, es geht um Demokratie, Menschenrechte und Selbstbestimmung, um gesellschaftspolitische Ermächtigung und Verteilungsgerechtigkeit, es geht weniger um Gemeinschaft als um Individualität. Jetzt werden die Islamisten auf den Tahrir-Plätzen mit der Lupe gesucht wie seinerzeit die Atomwaffen von Saddam Hussein. Im Moment sieht es danach aus, dass Europa seinen Ansichten zum Islam ein Update verpassen muss. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2011)

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