Vergessene Kinder

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Missbrauch und Gewalt an Kindern gab es nicht nur in Einrichtungen der Kirche und der Länder. Auch das Kinderhilfswerk Pro Juventute ist betroffen - doch die Aufarbeitung der Vergangenheit fällt nicht leicht.

Sie mussten auf Eisengittern knien – oder auf Schotter, den sie selbst herbeischaffen und auf Zeitungspapier auszubreiten hatten –, bis die Knie blau waren. Sie erzählen von Schlägen, sprechen darüber, wie sie auf dem Feld arbeiteten, wie die Gewalt über das rein Körperliche hinausging.

„Es gab keine emotionale Wärme“, sagt Katharina E*. „Anzusehen, wie die anderen leiden mussten, ständig zu spüren, dass wir Kinder zweiter Klasse sind“, das sei für sie das Schlimmste gewesen. 28 Jahre haben Katharina E. und ihre Pflegegeschwister Erika und Andreas B. geschwiegen. Nun sprechen sie erstmals über das Leid, das ihnen beim Kinderhilfswerk Pro Juventute widerfahren ist. Die Erlebnisse von damals prägen ihre Leben bis heute. Doch, wie Recherchen der „Presse am Sonntag“ zeigen, tut man sich bei Pro Juventute schwer, die Versäumnisse der Vergangenheit aufzuarbeiten.


Betroffene als Imageproblem? Katharina E. war es, die Mitte der 1980er-Jahre die Misshandlungen mit Hilfe ihrer Sozialarbeiterin aufdeckte. Sie ist es heute, die – als Erste aus der betroffenen Einrichtung – Wiedergutmachung fordert. Bestärkt hatten sie Medienberichte im Oktober. Wie die „Kleine Zeitung“ berichtete, soll es in einem anderen Pro-Juventute-Haus Misshandlungen gegeben haben. „Das ist ja wie bei uns“, dachte Katharina E., kein „Einzelfall“, wie Pro Juventute in einer Presseaussendung Mitte Oktober behauptete.

Vor einem Jahr übernimmt die katholische Kirche als erste Institution umfassend Verantwortung für Opfer von Missbrauch und Gewalt, Wiedergutmachung inbegriffen. Inzwischen ist man auch in den Einrichtungen fast aller Bundesländer um Vergangenheitsbewältigung bemüht. Beim privaten Kinderhilfswerk Pro Juventute ticken die Uhren anders. Wochenlang werden Interviewanfragen zunächst abgelehnt. Antworten zu Vorwürfen bleiben knapp, auf Sachverhalte wird nicht konkret eingegangen.

Seit der Gründung 1947 hat Pro Juventute – nach Eigendefinition Österreichs älteste Kinderdorfvereinigung – laut eigenen Angaben mehr als 5000 Kinder großgezogen. Waren es nach dem Krieg Waisen, übernahm man bald Kinder von der Jugendwohlfahrt. Der gemeinnützige Verein finanziert sich überwiegend aus öffentlichen Geldern. Laut dem aktuellsten Jahresbericht 2009 sind das bei einem 13-Millionen-Euro-Budget rund neun Millionen.

Lange galt Pro Juventute als Vorzeigeorganisation. In den Archiven finden sich vor Oktober 2010 keine negativen Schlagzeilen. Im Dezember zeigt das Monatsmagazin „Datum“ einen Fall sexuellen Missbrauchs auf und beschreibt erstmals Mängel im Betreuungssystem von Pro Juventute. Mitarbeiter werfen der Organisation ein über die Jahre gewachsenes System der Vertuschung vor.

Wenige Tage, nachdem Katharina E. im Oktober über die Missstände in der Zeitung liest, schreibt sie an Emanuel Freilinger, den pädagogischen Leiter bei Pro Juventute. Der Inhalt: die Erlebnisse ihrer Kindheit. Sie will reden. Sie muss warten, mehr als fünf Monate – bis es im März zu einem persönlichen Gespräch kommt. „Es gab das Dilemma, dass die Causa bei Herrn Freilinger lag“, sagt Wirtschaftsdirektorin Sabine Kornberger-Scheuch im Interview mit der „Presse am Sonntag“. Und weiter: „Anfang November ist er ins Burn-out gegangen und war bis Ende Jänner im Krankenstand.“ Sie bedaure, dass es lange gedauert habe, und räumt ein, dass es ein Fehler war, die Dateien im Computer ihres Kollegen nicht geöffnet zu haben. Ende März wird Katharina E. also nach Salzburg in die Zentrale eingeladen. Fritz Peham, Präsident des Vereinskuratoriums, ist ihr Gesprächspartner. Der Ex-VP-Gemeinderat der Stadt Salzburg zeigt sich betroffen, zahlt später ein Essen. Dann sitzt Katharina E. wieder im Zug nach Wien.

Auf ihre Forderungen nach einem öffentlichen Bekenntnis zu den Vorfällen, nach einer eigenen Ombudsstelle und nach Ersatz für Therapiekosten geht Peham laut ihren Angaben nicht ein. Sie verweisen Katharina E. an die Kinder und Jugendanwaltschaft (KiJA) des Burgenlands, wo sich die Übergriffe ereignet haben. Tatsächlich ist dort die KiJA, wie in den meisten Bundesländern, eine Art Opferschutzstelle – ob Kinder privater Einrichtungen Entschädigungen bekommen, ist unterschiedlich (siehe Artikel unten).

Das Land Burgenland beispielsweise zahlt nicht an Opfer privater Träger, wie eben Pro Juventute. Der zuständige Kinder- und Jugendanwalt Christian Reumann sagt selbst, er sei von Pro Juventute kontaktiert worden. Aber: „Über die Geschichte weiß ich noch nicht viel.“ Er könne nicht mehr machen, als mit Katharina E. zu reden und ihre Forderungen bei Pro Juventute einzubringen. Der Kreis schließt sich.

„Pro Juventute geht allen Vorwürfen umgehend nach“, schreibt Direktorin Sabine Kornberger-Scheuch auf entsprechende Anfrage. Ob man mit E.s Pflegeeltern gesprochen hat? Ihre Antwort: „Ich weiß nicht, ob die noch leben.“ Tun sie – noch im selben Ort, wo die Pflegegeschwister „Kinder zweiter Klasse“ waren. „Wenn Frau E. das so erlebt hat, reicht uns das, um ihr zu helfen“, erklärt die Direktorin. Und weiter: „Das akzeptieren wir und recherchieren nicht nach, ob es tatsächlich so war.“


„Frechheit“.
Für Katharina E. ist das Vorgehen von Pro Juventute dennoch eine „Frechheit“. Sie hatte sich schnelle, unbürokratische Hilfe erwartet. „Letztlich kann Geld nur aus dem Topf kommen, aus dem wir die Anliegen der heutigen Kinder begleichen“, hatte Präsident Peham in einem Brief festgestellt. Insgesamt sind Pro Juventute bisher fünf Fälle von Betroffenen bekannt. Zwei davon sind die Geschwister Andreas und Erika B.

Andreas B. will nicht mit dem Verein reden. „Was bringt es mir?“, fragt er und zuckt die Achseln. Katharina E. habe man einen Brief für ihre Pflegeschwester Erika B. mitgegeben, sagt die Direktorin. Solange sie sich nicht melde, seien Pro Juventute die Hände gebunden. Warum hat Erika B. bisher nicht auf das Schreiben geantwortet? Sie erklärt, dazu habe sie weder die Zeit noch die Kraft – und außerdem: „Katharina ist viel redegewandter als ich. Wenn sie nichts erreicht, dann geht bei mir auch nichts.“

*Aus Rücksichtnahme auf die Betroffenen wurden die Namen geändert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.05.2011)

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