Ein russischer Autor rechnet scharf mit der eigenen Elite ab. Und: Linzer Zeitschrift macht sich mit Habilitationskritiken einen Namen.
GedankenLese
Blick in politische Zeitschriften
Die Optimisten unter den westlichen Russland-Beobachtern sehen die Zukunft des Landes so: Mittel- und langfristig wird die Zivilgesellschaft in Russland wieder aufwachen und sich engagieren – so wie in den Jahren 1989 bis 1995 – und das Land in eine demokratische Richtung lenken. Oder die jetzige Herrschaftselite tritt aus Altersgründen ab und überlässt jungen, liberal gesinnten Leuten das Feld, die gleichfalls ein demokratisches Russland anstreben werden. Ihr westlichen Träumer, argumentiert Wladislaw Inosemzew in einem Aufsatz, den die US-Zeitschrift „The American Interest“ in der Frühjahrsausgabe abgedruckt hat.
Inosemzew hält zwar auch nichts von der These, dass Russland mit all den autoritären Tendenzen seit dem Erscheinen Wladimir Putins sich geradewegs auf eine Neuauflage der Sowjetunion zubewegt. Ja, es gebe ernsthafte Einschränkungen im politischen Bereich in Russland, aber die Bürger hätten heute Zugang zu unabhängigen Informationsquellen, könnten Besitz erwerben, privat Geschäfte betreiben und frei aus- und wieder heimreisen.
Was dem Direktor des Zentrums für postindustrielle Studien in Moskau aber große Sorge bereitet, ist Auswahlverfahren und Zusammensetzung der heutigen russischen Machtelite: ein riesiges Heer von ineffizienten, mittelmäßigen, korrupten Bürokraten. Nicht eine mächtige Oligarchie sei das Problem Russlands, sondern „die Diktatur der Inkompetenz“, die sich aus der negativen Selektion des Führungspersonals ergeben habe.
Mit Geld sei heute in Russland auch politisch fast alles zu erkaufen – so sitzen in der Duma 49 Dollarmillionäre und sechs Milliardäre, im Föderationsrat 28 Millionäre und fünf Milliardäre. Erfolgreiche Geschäftsleute und Politiker hieven ihre Sprösslinge an Schaltstellen in Wirtschaft und Politik, ganze Familien infiltrieren die Regierungsstellen. „Der Patrimonialismus ist genauso institutionalisiert wie der Feudalismus“, schreibt Inosemzew. Dazu kommt, dass seit Jahren viele der talentiertesten jungen Leute Russland den Rücken kehren, sobald sie die Möglichkeit dazu haben, während Mittelmäßige und Angepasste rasch Karriere machen.
Inosemzew fürchtet angesichts all dieser Tendenzen, dass „die Konkurrenz innerhalb der Elite immer geringer und die Qualität des Regierens weiter abnehmen wird; und was von effektivem Management noch übrig bleiben wird, wird ebenfalls kollabieren.“
Einer breiteren Öffentlichkeit noch wenig bekannt ist „Historicum“, eine vierteljährlich erscheinende „Zeitschrift für Geschichte“. Sie erscheint in Linz und wird von Michael Pammer, Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der dortigen Johannes-Kepler-Universität geleitet. Die Zeitschrift hat sich in der Historiker-Gemeinde dadurch einen Namen gemacht, dass sie Habilitationen zu historischen Themen an österreichischen Unis kritisch unter die Lupe nimmt. Sehr kritisch sogar, wie Professor Pammers Kritik an Gerald Steinachers Habilitationsschrift „Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen“ an der Uni Innsbruck im jüngsten Heft zeigt.
Schwerpunkt dieses Heftes aber ist der Wiener Gipfel 1961, der in Wien gerade mit einer viertägigen Großkonferenz und der Veröffentlichung eines über 1000 Seiten dicken Sammelbandes „abgefeiert“ wurde. Wer angesichts dieser enormen Informationsfülle zurückschreckt, wen das Thema aber interessiert, dem sei das Frühjahrsheft von „Historicum“ empfohlen. Da sind die Beiträge mehrerer Autoren des Sammelbandes zusammengefasst in geraffter Form zu finden.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2011)