Der türkische Premier sollte sich nun wieder mehr um Reformen kümmern als um den Ausbau seines Einflusses.
Recep Tayyip Erdoğan ist ein Mann mit großen Zielen. Für eine Zweidrittelmehrheit reichte es aber doch nicht. Immerhin: Die Hälfte der türkischen Wähler stimmte für den konservativen Premier – ein starkes Zeichen dafür, wie sehr seine gemäßigt islamische AK-Partei mittlerweile in der Gesellschaft verankert ist. Vor fast zehn Jahren übernahm Erdoğan die Macht mit dem Willen, das Land umzuformen. Mit seinen Schritten erntete er auch in Europa Lob; schürte aber in seinem eigenen Land auch Ängste.
Erdoğan zog Reformen durch, die die Türkei näher an die EU heranbrachten. Die Wirtschaft boomt. Und außenpolitisch setzt die AKP-Regierung auf Entspannung mit den Nachbarn – mit Ausnahme von Israel: Hier hat sich das Verhältnis dramatisch verschlechtert. Ankara pflegt vernünftige Beziehungen zur Kurdenregion im Nordirak und vermittelt auf dem Balkan. Bemühungen um Einfluss im arabischen Raum wurden aber teils von den Umstürzen zunichtegemacht; deshalb, weil es in Ägypten und Libyen vorwiegend Amerikaner und Europäer waren, die an den Weichenstellungen mitwirkten.
Erdoğan drängte die Macht des türkischen Militärs zurück, was dem religiösen Politiker auch Applaus laizistischer Intellektueller einbrachte. Doch mittlerweile fürchten auch sie eine Islamisierung; klagen, das Land sei konservativer geworden und die Pressefreiheit in Gefahr.
Nach der Wahl täte der Premier nun gut daran, sich wieder mehr um demokratische Reformen zu kümmern als um den Ausbau seines Einflusses in allen Bereichen der Gesellschaft. Und er täte gut daran, die Spaltung des Landes zu überwinden. Für eine demokratische, mehrheitlich muslimische und zugleich moderne Türkei – eine wichtige wirtschaftliche und politische Macht als Brücke zwischen Europa und Asien.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.06.2011)