Wie abendländisch ist die Türkei des Pascha Erdoğan?

Innen- und außenpolitisch ist die Regionalmacht Türkei unter Erdoğan nicht bereit, Kurs auf politischen Konsens zu nehmen.

Braucht die Türkei die EU mehr als die EU die Türkei? Eine eher akademische Frage, die sich besonders nach der jüngsten Wahl eigentlich nicht mehr stellt. Denn die Türkei hat im Wahlkampf deutlich gemacht, dass ihr an Europa nur noch wenig liegt. Und die Politik des Ministerpräsidenten, der inzwischen mehr und mehr zum Alleinherrscher geworden ist, lässt keinen Zweifel daran, dass europäisch-abendländische Werte für ihn überflüssiges Gerümpel sind.

Innen- wie außenpolitisch zeigt Premier Recep Tayyip Erdoğan, dass die Türkei unter seiner Führung als Regionalmacht keine Rücksicht auf einen politischen Konsens zu nehmen bereit ist. Außenpolitisch hat er seine Nachbarn desavouiert, der Arabische Frühling war ihm keine Reaktion wert. Und es kennzeichnet seine Mentalität, dass er als einzigen seiner Nachbarn Syrien hofierte, Assads brutale Diktatur, für die Menschenleben keine Bedeutung haben. Dass er zudem Israel anfeindete, um sich bei den arabischen Nachbarn anzubiedern, dürfte auch nicht ohne Folgen bleiben.

Geht es nur um Kultursnobismus?

Innenpolitisch hat Erdoğan in diesem Wahlkampf die Maske des Biedermannes fallen lassen. In der Türkei des Pascha Erdoğan werden wahllos Professoren, Anwälte und Journalisten verhaftet, sollten sie es wagen, eine abweichende Meinung als die seiner Partei zu äußern. Kein Zufall, dass nach einer Untersuchung des Organisation „Reporter ohne Grenzen“ die Türkei in Sachen Pressefreiheit den Platz 138 von 178 Ländern belegt, hinter Zimbabwe, Bangladesch und der Ukraine.

Michael Fleischhacker meint zudem, dass ein EU-Beitritt der Türkei die europäischen Institutionen überfordern würde, dass Menschenrechte und rechtsstaatliche Prinzipien nicht europäischen Standards entsprächen. Sind solche Einwände wirklich nur „Kultursnobismus“? Zugegeben, die Türkei hat sich unter Erdoğan zu einem Schwergewicht in der Wirtschaft entwickelt. Wirtschaftswachstum und Staatsverschuldung weisen Daten aus, die viele EU-Staaten gern hätten. Selbst die Arbeitslosigkeit, früher der zentrale Hemmschuh der Wirtschaft, ist inzwischen auf elf Prozent gesunken.

Islamistischem Denken verhaftet

Dies allein kann jedoch kein Maßstab sein. Schon Lenin hat die kurzsichtige Gier der Kapitalisten mit der Bemerkung quittiert, sie verkauften auch noch den Strick, an dem wir sie aufhängen.

Trotz seines Wahltriumphs ist Erdoğan mit dem Ergebnis nicht glücklich. Denn seinem Ziel, durch eine Verfassungsänderung ein Präsidialsystem nach französischem Vorbild zu oktroyieren, ist er nicht nähergekommen. Ob die – im Westen immer fälschlich als „gemäßigt“, in Wirklichkeit radikal-islamistische Partei – AKP sich damit abfindet, ist zu bezweifeln.

Wie tief diese Partei im islamistischen Denken verhaftet ist, belegt die Brutalität, mit der gegen Frauen vorgegangen wird: Zwischen 2002 (dem Amtsantritt Erdoğans) und 2009 stieg die Zahl der Gewalttaten und sogenannten Ehrenmorde laut „Spiegel“ von 66 auf 953. „Jeden Tag stirbt eine Frau“, klagen Menschenrechtler. Alles nur Kultursnobismus?

Wie Erdoğan selbst ein Menschenleben einschätzt, auch dafür hat der Wahlkampf einen eindrucksvollen Beleg geliefert. Um seine Konkurrenz von der nationalistischen Partei MHP zu schädigen, warf er dieser vor, sie trage Schuld daran, dass PKK-Führer Abdullah Öcalan nicht gehängt worden sei. So habe ich mir immer einen modernen, europäischen Staatenlenker vorgestellt...

Professor Detlef Kleinert begann seine berufliche Laufbahn beim Bayerischen Fernsehen. Er war unter anderem Südosteuropa-Korrespondent der ARD in Wien.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2011)

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