Krankenkassen: Psychische Leiden nehmen rasant zu

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Vereinsamung, wenig Aussprachemöglichkeiten oder Arbeitsstress? Krankenkassen rätseln über die Ursachen für nun bereits 900.000 Patienten mit psychischen Krankheiten, gut die Hälfte davon ist älter als 60 Jahre.

Wien/Ett. 900.000 Menschen in Österreich müssen wegen psychischer Probleme Leistungen der Krankenversicherung in Anspruch nehmen, gut die Hälfte davon ist älter als 60 Jahre. Vor allem die rasante Zunahme der Zahl der Patienten macht den Vizegeneraldirektor der Sozialversicherungsträger, Christoph Klein, betroffen. Die Daten beruhen auf einer erstmaligen „Ist-Analyse“ für 2009, die von Hauptverband und Salzburger Gebietskrankenkasse durchgeführt wurde. Drei Jahre zuvor gab es 100.000 Patienten weniger mit psychischen Erkrankungen. Die Kosten der Krankenversicherung für psychische Leiden machen rund 750 Millionen Euro aus.

Frauen oft in Invaliditätspension

Die Entwicklung bei den Erkrankungen setzt sich in der Pensionsversicherung fort. Immerhin rund ein Drittel der jährlich rund 30.000 Neuzugänge zur Invaliditätspension erfolgt aufgrund psychischer Probleme. Das sind also 10.000 neue Fälle im Jahr. Frauen sind besonders betroffen. Bei ihnen sind psychische Erkrankungen schon der Hauptgrund für eine Invaliditätspension.

Karin Hofer von der Salzburger Gebietskrankenkasse, Klein und Experte Johannes Gregoritsch vom Hauptverband belegten die dramatische Entwicklung mit weiteren Zahlen:
•250 Millionen Euro machen allein die Kosten der Kassen für Psychopharmaka aus; 63 Millionen für Psychotherapie; 31 Millionen Honorare für Psychiater; 100 bis 150 Millionen Euro sonstige Leistungen zur Behandlung von Patienten mit psychischen Leiden.
•Im Laufe des Jahres 2009 waren 78.000 Versicherte aufgrund psychischer Probleme im Krankenstand. Das war ein Anstieg um 22 Prozent zwischen 2007 und 2009. Im gleichen Zeitraum gab es wegen körperlicher Beschwerden nur ein Plus von zehn Prozent (weitere Daten siehe Grafik).
•Fix ist nach der Auswertung der Daten, dass die Inanspruchnahme von Kassenleistungen (Psychopharmaka, Besuche bei Psychiatern, Therapiestunden) aufgrund psychischer Beschwerden zugenommen hat. Das bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass auch die Zahl psychisch kranker Österreicher so rasant gestiegen ist. Universitätsprofessor Karl Dantendorfer, der den psychosozialen Dienst im Burgenland mitaufgebaut hat, stellte klar: Nicht zugenommen hat Schizophrenie (betroffen ist rund ein Prozent der Bevölkerung); ähnlich ist es bei der Zahl manisch-depressiver Patienten (rund 1,5 Prozent); stressbedingte Erkrankungen nehmen wahrscheinlich zu.

Es lassen sich mehr behandeln

Wahrscheinlicher ist nach Meinung Dantendorfers, dass sich – richtigerweise – mehr Menschen als früher wegen psychischer Probleme behandeln lassen. Dies auch, weil etwa mit dem Begriff „Burn-out“ das Negativ-Image einer Depression wegfällt. Er formulierte das salopp so: „Alle Topmanager haben einmal Burn-out.“

Traditionelle Auffangnetze weg

Über die wahren Ursachen für die rasche Zunahme an Patienten mit psychischen Erkrankungen tappt man trotz der Daten im Dunkeln. Hofer vermutet, der hohe Anteil an betroffenen Menschen über 60 Jahren habe „viel mit Vereinsamung“ sowie Krankheit und Schmerz zu tun. Für Klein könnte eine Ursache sein, dass traditionelle „Auffangnetze“ wie Familie oder Vereine und damit Aussprachemöglichkeiten für viele Menschen nicht mehr vorhanden sind. Im Berufsleben wiederum seien mittlerweile Arbeitsplätze mit weniger Belastung, wie Portier oder Sortierer, oft nicht mehr vorhanden.

Der Hauptverband will jedenfalls bei Prävention und Früherkennung ansetzen. Damit soll verhindert werden, dass Personen mit psychischen Problemen einen Antrag auf Invaliditätspension stellen. Eine genaue Strategie wird nun bis Ende 2011 ausgearbeitet.

E-Medikamente: Ärzte für Stopp

Ein anderes Problem: Die Ärztekammer steigt generell wegen der E-Medikation – vom Arzt verordnete und in Apotheken erhältliche Medikamente werden elektronisch erfasst – auf die Bremse. Die Ärzte forderten am Freitag den Stopp des Pilotprojekts zur Klärung rechtlicher Fragen.

Auf einen Blick

Eine erstmalige Analyse der Sozialversicherung für 2009 zeigt: 900.000 Menschen haben wegen psychischer Leiden Krankenkassen-Leistungen genützt. Von 7000 Psychotherapeuten sind rund 2000 in Form von Vereinen für Kassen tätig: Pro Jahr gibt es rund 500.000 Therapiestunden. Rund 68 Prozent der Patienten erhalten Psychopharmaka im Wege einer Erstverschreibung von einem praktischen Arzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2011)

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