Da waren es nur noch 112

„Die Juden“ und ihre Friedhöfe. Über eine späte Bringschuld der Republik Österreich und braune Sager nach Mitternacht – samt einer typischen Arisierungsgeschichte.

Und die Juden“, fragt eine Frau Brigitte Kashofer, „kümmern sich nicht einmal um die Gräber ihrer eigenen Ahnen? Keine Pietät – nur Gier!“ Ein Posting auf der Homepage von Martin Graf, unzensuriert.at, am 20. November 2010 um 00:41. Da verliert man dann schon leicht allfällige Hemmungen, und es passieren antisemitische Rülpser, die man sich vielleicht tagsüber nicht gestatten würde. Ein anderer, der sinnigerweise unter dem Namen „pitbul“ auftritt, postet noch eindeutiger, wenn auch nicht gerade in sehr deutschem Deutsch: „Das kann doch nicht war sein, wie unverschämt ist das den, und wieder dir das jüdische Volk bevorzugt...“ Das geht so gebrochen weiter, bis dann fast die Drohung in den Raum gestellt wird: „Mich würde es nicht wundern wenn die Geschichte sich wiederholt, wollen wir das, ich sicher nicht, warum müssen wir wieder für diese Gräber aufkommen, was muss noch alles geschehen nur das jüdische Volk bevorzugt wird, und immer und immer wieder sonder Privilegien herausschlägt...“

Was heißt das: Sonst wird sich die Geschichte wiederholen? Stellt hier einer gar die Rute eines abermaligen Holocaust ins Fenster, nur weil das österreichische Parlament 2010 beschlossen hat, endlich für die Sanierung der großteils verfallenen jüdischen Friedhöfe im Land aufzukommen? 2001 hat sich die Republik im Washingtoner Abkommen verpflichtet, für die Instandhaltung beziehungsweise Wiederinstandsetzung der jüdischen Friedhöfe zu sorgen. Eine große Geste damals, die moralische Verpflichtung dazu versteht sich von selbst. Aber seither ist nichts passiert. Die Friedhöfe verfielen weiter, der Bund schob die Kompetenz auf die Länder und Gemeinden, die wieder auf den Bund. Die typisch österreichische Lösung. Zwischenzeitlich kam es zu peinlichen Situationen, etwa als die damali-
ge amerikanische Botschafterin den seit Jahren aus Sicherheitsgründen gesperrten Währinger Friedhof gemeinsam mit Studenten aus den USA sanieren wollte. Ein Aufschrei bei der Gemeinde Wien, ein Aufschrei bei der Nationalratspräsidentin, die nichts taten: Das machen wir doch selbst, wir brauchen keine Einmischungen von außen!

Immerhin, 2010 hat das österreichische Parlament einen Grundsatzbeschluss gefasst. Die Einrichtung eines Fonds wurde beschlossen, in den wird 20 Jahre lang jedes Jahr eine Million Euro einbezahlt. Die Kultusgemeinde garantierte ihrerseits, dieselbe Summe aufzubringen. Endlich eine Entscheidung, sehr spät, und es bedurfte, wie so oft, eines gewissen medialen Drucks. Der mag sogar so groß gewesen sein, dass sich selbst die Abgeordneten der FPÖ dem zustimmten. Man hatte mit Martin Graf und all den rechten Burschenschaftern ohnehin genug Butter auf dem Kopf. Dass es innerhalb der Partei dazu eine völlig andere Meinung gibt, verwundert nicht. „Und da haben auch sämtliche Abgeordnete der FPÖ mitgestimmt?“, fragt in ihrem Posting jene Frau Kashofer.

Brigitte Kashofer ist selbst FPÖ-Funktionärin. Sie ist Obfrau der FPÖ Amstetten, seit 2010 auch Stadträtin. Auf der parteieigenen Homepage wird als Beruf einmal Lehrerin, einmal Diplompädagogin angegeben, tatsächlich ist sie pensionierte Volksschullehrerin. Muss man einer ehemaligen Staatsbeamtin der Republik Österreich wirklich erklären, warum die jüdischen Friedhöfe bei uns alle in einem so traurigen Zustand sind? Muss man ihr die historischen Tatsachen und deren Konsequenzen auseinandersetzen, dass sich 120.000 vertriebene sowie 60.000 ermordete österreichische Juden und deren nicht mehr geborene Nachkommen schwerlich um die Gräber ihrer „Ahnen“ kümmern können?

Wenn man den Alten Friedhof in Amstetten betritt, kommt man gleich beim Eingang an einem jüdischen Grabstein vorbei. Er ist direkt an der Mauer verkehrt aufgestellt. Der Davidstern wurde damals herausgemeißelt. Die Rückseite ist seither die Vorderseite, auf ihr wurde 1947 eine neue Schrift eingraviert, als es an repräsentativen Grabsteinen mangelte und der ortsansässige Steinmetz über ein Riesenlager alter Steine verfügte.

Es ist ein arisierter Grabstein, eines der wenigen Relikte der untergegangenen jüdischen Gemeinde von Amstetten. Wenn auch zuletzt mit nur noch 200 Seelen, war es eine bis 1938 funktionierende Gemeinde. Sie wurde gleichsam über Nacht ausgelöscht. Das Einzige, was von ihr geblieben ist: der jüdische Friedhof in Mitterburg, Stadtgemeinde Ybbs, und der arisierte jüdische Grabstein auf dem Alten Friedhof. Es sollen angeblich noch mehr jüdische Grabsteine hier stehen, aber sie zu identifizieren ist heute nicht mehr möglich, da sie abgeschliffen und neu beschriftet wurden.

Das Auslöschen, das Methode war. So wie in der „Kristallnacht“, als SA-Männer und HJ-Buben den Friedhof verwüsteten und die Fenster der Zeremonienhalle einschlugen. In der Folge arisierte die Stadt Ybbs das Areal, der Friedhof sollte verschwinden. Der Steinmetz Leopold N. aus Amstetten interessierte sich für die Grabsteine und kaufte sie 1944 in Bausch und Bogen, angeblich zu einem Spottpreis. Eine „Arisierung“, die sich jedoch nicht wirklich als gutes Geschäft erweisen sollte. Zum einen wurde kurz darauf ein Gesetz erlassen, das aus Materialersparnisgründen das Aufstellen neuer Grabsteine untersagte. Zum anderen wurde Leopold N. im Mai 1945 von den Russen erschossen. Man muss festhalten, dass er eigentlich kein Nazi war, bestenfalls ein kleiner Kriegsgewinnler, der an den Grabsteinen verdienen wollte. Daraus wurde auch für seine Erben nichts. Nach 1945 sah sich der Steinmetzbetrieb bald mit einer Rückstellungsforderung konfrontiert. Aber das ist eine längere Geschichte, die bis ins Jahr 1961 dauert. Sie ist typisch und erklärt ein wenig, warum die jüdischen Friedhöfe in Österreich heute so sind, wie sie sind.

Beginnen wir mit dem 7. August 1948. An diesem Tag kommt der Überlebende Viktor Antscherl, 1938 aus Scheibbs vertrieben, jetzt Inhaber einer Import- und Exportfirma in England, nach Ybbs. Er will auf dem jüdischen Friedhof das Grab seines 1933 verstorbenen Vaters besuchen. Als er nach Mitterburg kommt, muss er mit „Entsetzen“ feststellen, „dass der ganze jüdische Friedhof eine Unkrautwüste ist, nicht ein Stein oder sonst einMerkzeichen steht, alles restlos geraubt“.

Er fragt in der Gegend herum und erhält erstaunlich genaue Informationen. Über den ehemaligen SA-Sturmführer Franz W., den Hauptverantwortlichen der Friedhofsschändung, den Abtransport der Grabsteine im November 1944 und ihren Verbleib in der Firma N. Antscherl ist empört: „Ich werde nicht verfehlen, diese Schandtat den jüdischen Behörden in London bekannt zu geben.“

Bereits zuvor, im November 1946, wendet sich ein anderer Hinterbliebener, der nun in Wien ansässige Rudolf Grüner, an die Israelitische Kultusgemeinde Wien. Er macht ebenfalls auf die unrechtmäßige Entwendung der Grabsteine durch den Steinmetzmeister N. aufmerksam und verlautbart: „Ich allein stelle die Forderung für elf Grabsteine!“ Drei Wochen vorher hat Grüner an den verantwortlichen Geschäftsführer der protokollierten Firma Natursteinwerke Leopold N. geschrieben und ihn um Stellungnahme gebeten. Der Brief wurde nicht beantwortet. Erst als die Gendarmerie von der Staatspolizei Wien beauftragt wird, Erhebungen durchzuführen, gibt es eine Reaktion: Niemand will oder kann sich an die Grabsteine erinnern. Daraufhin wendet sich das Rechtsbüro der IKG an den Volksgerichtshof, Justizministerium, Abteilung 4, mit dem Ersuchen, „gegen alle an der Schändung des Friedhofes in Ybbs./D. beteiligten Personen das Strafverfahren einzuleiten“.

Mehrere Behörden sind in den folgenden Jahren mit dem Fall befasst, aber es geschieht nichts. Sogar die Kultusgemeinde scheint ihr Interesse verloren zu haben. Am 18. Dezember 1948 beschwert sich Rudolf Grüner und zitiert, was ihm ein Funktionär der IKG einige Monate zuvor mitgeteilt hat: „Man könne doch in der jetzigen Zeit nicht gut gegen Nazis weiter vorgehen, diese Herrschaften fühlen sich schon wieder stark, und da könnten uns solche Schritte nur zum Nachteil gereichen!“

In der Sache geht es nicht nur um mehr als 300 Grabsteine, es geht um das Andenken der hier Beerdigten, denen man ihre Namen und ihr Eigentum geraubt hat. Denn in der jüdischen Tradition „gehört“ der Grabstein dem Toten. Grüner als Angehöriger von insgesamt elf Toten stellt eine klare Forderung: „diesen Opfern Rehabilitierung zu verschaffen, denn ein Großteil dieser Juden war auch einmal Steuerzahler!“

Ein eindeutiger Wink an die Kultusgemeinde, doch die ist mit solchen Angelegenheiten überfordert. Sie muss erst mühselig die zerstörten Strukturen ihrer Organisation wiederaufbauen, es fehlen finanzielle Mittel. In erster Linie muss sie sich um die Lebenden kümmern – die wenigen Überlebenden, die Remigranten, die Angehörigen der Opfer. Zudem war die IKG nach 1945 ja nicht mehr nur auf ihr altes Gebiet beschränkt, sie war bei ihrem Neubeginn die Rechtsnachfolgerin aller untergegangenen Kultusgemeinden in Österreich geworden und musste nun die Interessen vieler vertreten. Ein Friedhof wie der in Ybbs war da nur ein Randthema. Und es waren an die 70 Friedhöfe, alle großteils in schlechtem Zustand, die die Kultusgemeinde zu betreuen hatte.

Im Fall des jüdischen Friedhofes in Ybbs gingen die Dinge zögerlich weiter. Zwar wurde die Kultusgemeinde 1952 wieder Besitzerin des Friedhofsareals, von den Grabsteinen ist im Urteil der Rückstellungskommission allerdings nicht die Rede.

Im November 1955 inspiziert ein Funktionär der IKG den Friedhof. Sein Bericht beginnt mit der Feststellung: „Der Friedhof befindet sich in tadelloser Ordnung, wiewohl fast keine Grabsteine vorhanden sind.“ Ein Friedhof ohne Grabsteine, dafür tadellos, das klingt fast nach jüdischem Witz. Umso mehr, als kurz darauf ein Leichnam auf den Friedhof überführt werden soll. Hiezu wird angemerkt: „Der Friedhof ist zur Gänze belegt.“

Für den aufgelassenen Friedhof gibt es zu der Zeit immer noch eine Friedhofswärterin. Anhand des erhaltenen Beerdigungsbuches soll sie an den abgeräumten Gräbern Tafeln mit Nummern anbringen. Am Ende werden es 395 sein, die entscheidende Zahl im Streit um die Rückgabe der Grabsteine. Die lagern damals immer noch in einem Steinbruch der Firma N. Endlich, 1955, wird ein Verfahren gegen das Unternehmen eingeleitet. Aber wie lange wird das dauern?

Die Kultusgemeinde entschließt sich, mit der Firma N. in Verhandlungen zu treten. Man spricht mit der Witwe N. und dem Neffen Franz S. Der Leiter der Rechtsabteilung „hat die Sachlage erörtert und den Erwerb dieser Grabsteine damit verglichen, als ob die Firma eine Taschenuhr von jemandem erworben hätte, dem sie nicht gehört“. Der Geschäftsführer der Firma N. gesteht, „dass er am liebsten die Angelegenheit loswerden möchte“. Man einigt sich darauf, dass die Firma nach einer Woche eine schriftliche Stellungnahme abgeben und dabei auch die Kosten für den Rückstellungstransport bekannt geben wird. Doch dieses Schreiben ist nie eingelangt.

Juristisch gesehen ist die Angelegenheit kompliziert, es geht um Privatrecht. Die rechtlichen Eigentümer sind entweder nicht mehr am Leben oder vertrieben. Die Bestellung eines Abwesenheitskurators wird vorgeschlagen, die Einleitung eines Ediktalverfahrens, eine Grabsteinliste soll beim Internationalen Jüdischen Flüchtlingsreferat in Genf und in London veröffentlicht werden. Und so leicht will die Firma N. auch nicht auf die Steine verzichten, ihr Wert beträgt mittlerweile 150.000 Schilling.

Obwohl sie zwar im November 1957 von der Gendarmerie beschlagnahmt werden, fürchtet man in Wien, dass die Firma N. die Grabsteine „verschleppen oder verkaufen“ könnte. Man versucht es noch einmal im Guten, vergeblich. Schließlich wird Zivilrechtsklage eingebracht, doch juristische Spitzfindigkeiten machen den Fall vor Gericht bald aussichtslos. Mangelnde Parteifähigkeit, befindet das Oberlandesgericht Wien, die Arisierung, der Vermögensentzug, der Diebstahl der Grabsteine wird gar als „Unfallsereignis“ bezeichnet, das daraus abgeleitete Begehren der Kläger wäre eine subjektive und keine objektive „Klagehäufung“.

Man versucht es außergerichtlich. Im März 1961 wird tatsächlich ein Abkommen geschlossen, aber darin ist nur noch von „ungefähr 97 Grabsteinen“ die Rede. Wo sind die anderen hingekommen? Danach wird offenbar nicht mehr gefragt, es geht nur noch um die Kosten der Wiederaufstellung. Am 18. Mai 1961 teilt die Firma N. der IKG mit, „dass wir heute mit Grabsteinen gefahren sind. Wenn inzwischen kein Regen eintritt, so wird morgen die Lieferung fortgesetzt.“ Es sind 112 Grabsteine, „mit Sockeln, Einfassungen und eisernen Gittern“. Damit fand die Arisierungsgeschichte ihr Ende.

Allerdings, die verbliebenen Steine konnten den jeweiligen Gräbern nicht mehr zugeordnet werden. Man behalf sich, indem man die Grabsteine Rücken an Rücken in einer langen Doppelreihe aufstellte. Dann wuchs wieder das Gras. Die Zeremonienhalle wurde als Substandardwohnung vermietet, irgendwann war auf dem verrosteten Dach neben dem Davidstern eine Satellitenschüssel zu sehen.

Dass man heute auf dem Friedhof wieder die Namen der Toten lesen kann, ist einem Projekt des Francisco Josephinums, einer landwirtschaftlichen Schule in Wieselburg, zu verdanken. Schüler und Lehrer beseitigten das Unkraut, richteten Grabsteine wieder auf und zogen die verblasste Schrift nach. Wie gesagt, das war eine Privatinitiative – weder Republik noch Land noch die Stadt Ybbs war aktiv geworden.

Ob nun, nach dem Parlamentsbeschluss von 2010, auch die anderen jüdischen Friedhöfe wiederhergestellt werden? Was geschieht mit denen, für die sich niemand zuständig fühlt, oder jenen in Osteuropa? Und was ist mit den Friedhöfen, die nicht als solche deklariert sind? Mein Freund Harry Greger, geboren 1949 in Israel, der als letzter Nachkomme der ausgelöschten jüdischen Gemeinde in Amstetten lebt, würde sehr viel darum geben, das Grab seiner Großeltern, seiner Tante pflegen zu können. Das wäre ihm viel Geld wert. Aber wie soll er das anstellen? In Treblinka und in Minsk gibt es keine Gräber. ■


Gerhard Zeillinger, Dr. phil., lebt als
Publizist und Lektor in Amstetten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2011)

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