Afghanistan: Es droht ein Horrorszenario à la Vietnam

Die Entscheidung von US-Präsident Barack Obama, erste Teile des Afghanistan-Kontingents nach Hause zu beordern, ist innen- und wirtschaftspolitisch diktiert.

Wie – fast – immer, war es der kluge, aber Washington-müde und deshalb leider aus dem Amt scheidende amerikanische Verteidigungsminister Robert Gates, der die Entscheidung seines Präsidenten in den richtigen Kontext stellte: „Es gibt Besorgnisse im amerikanischen Volk, das nach einer Dekade des Krieges müde ist. Der Präsident muss diese Punkte offensichtlich genauso in seine Überlegungen einbeziehen wie die Bedingungen auf dem Feld in Afghanistan.“

Amerika ist nicht nur kriegsmüde. Amerika ist auch wirtschaftlich marode, finanziell klamm, politisch gespalten, gesellschaftlich nervös. Die Arbeitslosigkeit beträgt neun Prozent. USA-Reisende berichten dieser Tage, dass sicht- und spürbar sei, dass es dem Land nicht besonders gut gehe. Gleichzeitig gibt Washington jedes Jahr mehr als 110 Milliarden Dollar für das militärische Engagement allein in Afghanistan aus.

Kein Wunder, dass Präsident Barack Obama jetzt auf die Bremse tritt und angekündigt hat, in einem ersten Schritt bis Sommer 2012 33.000 Soldaten aus Afghanistan heimzuholen; es stehen dann immer noch 70.000 US-Soldaten am Hindukusch. Diese Entscheidung ist innen- und wirtschaftspolitisch diktiert, nicht militärisch. Klar, wenn es nach so manchen Planern und Entscheidungsträgern im Pentagon ginge, würden keine Soldaten von dort geholt, sondern zusätzlich welche hingeschickt. Entsprechend unzufrieden sind sie auch mit dem Teilabzugsplan des Präsidenten.

Klar ist auch, dass Obama von den noch von seinem Vorgänger George W. Bush formulierten Zielen, in Afghanistan mit westlicher Hilfe ein demokratisches und rechtsstaatliches Musterland in Südwestasien aufzubauen, völlig abgerückt ist. „Wir werden nicht versuchen, aus Afghanistan einen perfekten Ort zu machen“, sagte der Präsident in seiner Fernsehrede am Mittwoch.

Der eigentliche Zweck, warum Bush im Herbst 2001 nach den verheerenden Terroranschlägen vom 11. September in New York und Washington amerikanische Truppen nach Afghanistan geschickt hat, rückt wieder in den Mittelpunkt des US-Engagements: nämlich, um zu verhindern, dass das Terrornetzwerk al-Qaida Afghanistan als Basis zur Planung seiner Anschläge und als Ausbildungsstätte und Rückzugsgebiet für seine Aktivisten benutzen kann. Dass es Obama Anfang Mai gelungen ist, al-Qaida-Chef Osama bin Laden zu töten, hat dabei zusätzlichen öffentlichen Druck geschaffen, das Afghanistan-Abenteuer jetzt allmählich abzuschließen.

Aber so schwere Schläge der al-Qaida von den Amerikanern in den letzten Jahren zugefügt wurden: Die Taliban in Afghanistan sind weiterhin da – und sie sind so stark und gefährlich wie noch nie seit der westlichen Militärintervention vor bald zehn Jahren. Das optimistische Szenario, auf das Obama hofft, ist wohl, dass sich mit den Taliban in nächster Zeit in irgendeiner Form ein Arrangement treffen lässt. Präsident Hamid Karzai hat ohnedies schon seine Fühler ausgestreckt, verhandelt hinter den Kulissen mit den „Gotteskriegern“.

Das wahrscheinlichere Szenario nach einem Abzug der westlichen Truppen ist freilich ein Horrorszenario à la Vietnam. Die von der Nato aufgebauten afghanischen Sicherheitskräfte halten dem Ansturm der Taliban nicht stand. Es kommt zu einem entsetzlichen Blutbad – und am Ende baumelt Karzai wie einst Nadjibullah an einer Kabuler Straßenlaterne. Damals, Anfang der Neunzigerjahre, wollte niemand mehr außer ein paar wenigen Nachbarstaaten wissen, was im Inneren Afghanistans vor sich geht. Ergebnis war dann, dass die al-Qaida eine Terrorbasis aufbauen konnte, von der aus New York und Washington angegriffen wurden.

Wird sich die Geschichte am Hindukusch wiederholen? Das hängt vor allem von den Afghanen selbst ab. Wie kriegsmüde sind eigentlich sie, um alles zu unternehmen, dass der sei 1979 anhaltende Kreislauf der Gewalt in ihrem Land endlich gestoppt wird? Es kann doch kein Volk geben, das dazu verdammt ist, permanent in Not, Elend, Gewalt und Unterdrückung zu vegetieren. Der Westen, so viel ist nach Obamas Rede auch klar, kann den Afghanen da wenig helfen. Helfen müssen sie sich selbst.

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2011)

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