William Gibson: Neues vom Neuromancer

(c) Tropen Bei Klett-Cotta
  • Drucken

William Gibson erfand "Cyberspace" und nahm "Matrix" vorweg. In seinem jüngsten Buch, "System Neustart" (Originaltitel: "Zero History"), ist die Gegenwart gar nicht so leicht von der Zukunft zu unterscheiden.

William Gibsons Welten haben immer etwas Verträumtes. In ihnen scheint es keine lauten Geräusche zu geben und keine schnellen Bewegungen. Das mag an Gibsons distanziertem Stil liegen. Oder daran, dass alle seine Figuren in einer Realität leben, die halb Welt und halb Web ist. Manchmal wissen sie selbst nicht, wo die Grenze verläuft.

Sein jüngstes Buch „System Neustart“ (der deutlich weniger sperrige Originaltitel lautet „Zero History“) fühlt sich auch so an. Die Hauptfiguren wirken alle, als wären sie nicht so richtig bei der Sache. Als würde sich das auch gar nicht auszahlen, denn die Welt rund um sie herum könnte sich jeden Augenblick als Illusion herausstellen und in nichts auflösen.

Diese Vorsicht ist berechtigt. Immerhin hat der Mann, der sie erschaffen hat, in seinem ersten Erfolgsroman „Neuromancer“ den Begriff des „Cyberspace“ geprägt und in späteren Werken die Idee der „Matrix“ vorweggenommen. Und mit ihr die alte philosophische Idee neu codiert, dass die bloße Wahrnehmung der Wirklichkeit keine Garantie für deren Existenz ist.

Daher ist „System Neustart“ eine ziemlich unterkühlte Sache, ein Buch, in dem genau genommen nicht sehr viel passiert. Das aber auf interessante Art und Weise. Es ist auch ein Sci-Fi-Roman für Menschen, die mit diesem Genre normalerweise nicht allzu viel anfangen können. Gibson, der Mann, der früher die Zukunft auf fast prophetische Weise vorwegnahm, hat sich mit zunehmender Beschleunigung der Welt immer weiter in die Gegenwart zurückgezogen. „System Neustart“ ist mehr Fi als Sci, jenen Einflüssen auf der Spur, die unser Leben lenken, ohne dass wir es merken.

Geheime Marken. Gibson arbeitet gerne in Dreierschritten. Auf die „Neuromancer“-Trilogie folgte die „Bridge“-Trilogie. „System Neustart“ ist der letzte Teil der „Bigend“-Trilogie. Namensgeber ist der mysteriöse belgische Marketeer und Coolhunter Hubertus Bigend, dessen Name wahlweise französisch (Bischau) oder englisch ausgesprochen werden kann. „System Neustart“ kann für sich gelesen werden oder in Verbindung mit Teil eins „Mustererkennung“ und zwei „Quellcode“.

William Gibson nimmt den Leser in eine sehr seltsame Welt mit – die der „Geheimmarken“. In einer Gesellschaft, in der der Name, der „Brand“, alles ist, Leute für ihre Turnschuhe erschlagen werden und vor allem Geld bestimmt, wie hoch hinauf man es auf der Exklusivitätsleiter schafft, hat sich eine Gegenbewegung etabliert. Ein unbekannter Designer schneidert Jeans, die unter dem Namen „Gabriel Hounds“ im Netz kursieren. Nur einige wenige Eingeweihte wissen, wann und wo man diese handgemachten Stücke kaufen kann, die nach Schnitten der 50er- und 60er-Jahre und nur aus hochwertigsten Materialien angefertigt werden. Geld zählt hier nicht, nur Wissen macht einen zum Mitglied des Klubs. Die Konsumgesellschaft wird hier mit ihren eigenen Waffen geschlagen.

Dass Hubertus Bigend, ein Mann mit gottähnlichen Zügen, es nicht aushält, irgendetwas nicht zu wissen, versteht sich. Also heuert er ein ungewöhnliches Team an, um herauszufinden, wer hinter der Geheimmarke steckt. In erster Linie sind das Hollis Henry, eine alternde Rocksängerin, und Milgrim, ein ehemaliger Junkie. Bigend betrachtet Milgrim als sein Eigentum und Spielzeug, seit er diesen aus einer Laune heraus in einer teuren Schweizer Spezialklinik mit neuen Entzugsmethoden behandeln ließ.

Ein Knochen aus Rattan. Vervollständigt wird die schräge Truppe noch durch die Motorradbraut Fiona, die ehemalige Schlagzeugerin Heidi Hyde (die über hundertprozentige Treffsicherheit mit Dingen wie Dartspfeilen verfügt) und Garreth, Hollis' Geliebten, der beim Versuch vom höchsten Gebäude der Welt zu springen, von einem Auto überfahren wurde. Sein verletztes Bein enthält nun einen Knochen aus Rattan, mit dem das amerikanische Heer experimentiert, um Amputationen zu verhindern.

Ihre Suche nach den Geheim-Jeans steuert die bunte Truppe auf einen Kollisionskurs mit Waffenhändlern, die mit der US-Army groß ins Geschäft kommen wollen – diesmal allerdings mit Bekleidung. Die Armee, schreibt Gibson, habe mit ihrem Kleiderstil die Freizeitkleidung von Generationen inspiriert, brauche aber mittlerweile selbst dringend designtechnische Hilfe. Dahinter steckt sehr viel Geld für denjenigen, der den perfekten Schnitt vorlegen kann.

Der Abhörpinguin. Dass es Hubertus Bigend wirklich um Schnittmuster gehen könnte, ist unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass hinter den Spiegeln noch ein paar Spiegel versteckt sind. Für zusätzliche Verwirrung sorgen eine mehr als seltsame amerikanische Geheimagentin und fliegende Drohnen in Form von Tieren, die per Handy gesteuert werden und Abhöranlagen enthalten. Sicher ist dabei nur eines: dass nichts sicher ist. Und man vor allem nichts und niemandem trauen sollte.

Neu erschienen

William Gibson
System Neustart
Verlag Tropen (Klett-Cotta), 490 Seiten, 25,70 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2011)


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.