Eine Kreislaufschwäche, aber kein Infarkt

(c) AP (Jacques Brinon)
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Die globale Rezession von 2008 und 2009 hat den Migrationsströmen einen Dämpfer versetzt. Doch die Krise war weniger schlimm als befürchtet.

Leitartikel

Wenn man die Ströme der auswanderungswilligen Menschen rund um den Globus mit der Zirkulation von Blut im menschlichen Körper vergleichen kann, dann hat die weltweite Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009 der Globalisierung eine veritable Kreislaufschwäche beschert: Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die am Dienstag ihren jährlichen Bericht zu dem Thema veröffentlicht hat, ist der Zufluss der Migranten in die 24 Mitgliedsländer der Organisation 2009 um rekordverdächtige sieben Prozent gesunken, nach einem Minus von fünf Prozent im Jahr davor. Das laute Platzen der Immobilienblase in den Vereinigten Staaten hatte also nicht nur Folgen für Staatshaushalte und Bilanzbücher der Banken, sondern auch für die Buchhalter der Zuwanderung in den Innenministerien der OECD-Länder.

Diese Entwicklung liegt in der Natur der Sache. Angesichts eines – euphemistisch formuliert – negativen Wirtschaftswachstums sind die Aussichten auf Erfolg in der Fremde geringer, die Rezession schränkt also den menschlichen Aktionsradius ein. Die Daten, die Experten der OECD ausgewertet und publiziert haben, scheinen das zu bestätigen: Einen überdurchschnittlichen Rückgang der Aus- und Zuwanderung hat es ausgerechnet dort gegeben, wo der Migration keine Schranken gesetzt werden, also innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums.

Wer erstens nicht fürchten muss, in Zukunft an der Ausreise gehindert zu werden, und sich zweitens in einer ohnehin halbwegs verträglichen ökonomischen Lage befindet, kann seine Entscheidung aufschieben und auf bessere Zeiten warten. Auswanderungswillige Menschen aus Afrika oder Asien können sich diesen Luxus des Zuwartens schlicht und ergreifend nicht leisten.


Welche Trends lassen sich nun aus dem Bericht herauslesen? Zunächst einmal zeigt es sich, dass die Welt noch engmaschiger verwoben ist als gedacht. Ein siebenprozentiger Rückgang der Migration klingt zwar dramatisch, doch die Experten der OECD haben angesichts der Schwere der globalen Rezession mit einem kräftigeren Minus in der Statistik gerechnet. Um mit den Worten des US-Autors und Apologeten der Globalisierung Thomas Friedman zu sprechen: Die Welt ist im Laufe des vergangenen Jahrzehnts wirklich ein Stück flacher geworden.

Lehre Nummer zwei: Der entwickelte Teil des Globus hat längst kein Monopol mehr auf Migranten. Knapp die Hälfte der Wanderbewegungen findet nämlich innerhalb der Entwicklungsländer statt, die sogenannte Süd-Süd-Migration wird immer wichtiger. Der reiche Norden sollte sich also nicht darauf verlassen, im Fall des Falles immer auf einen Pool junger, gut ausgebildeter und arbeitswilliger Migranten zurückgreifen zu können. Das ökonomische Gravitationszentrum verschiebt sich langsam, aber sicher nach Fernost – und an den asiatischen Werkbänken ist noch viel Platz.

Angesichts dieser Entwicklung wäre es also höchst an der Zeit, sich um Studenten aus dem Ausland zu bemühen, denn die Daten der OECD belegen, dass zwischen 20 und 30 Prozent der ausländischen Studierenden nach dem Erlangen des Hochschuldiploms im Gastland bleiben (und dort als Steuerzahler zum Wohlstand beitragen). Für Österreich besteht akuter Handlungsbedarf, denn die studentische Rückhalterate beträgt hierzulande gerade einmal 17 Prozent – schlimmer geht es in der OECD nimmer.


Der Bericht gibt aber auch in einem anderen Punkt Anlass zur Sorge: Geschrumpft ist die Wirtschaft in den letzten Jahren vor allem auf Kosten der Zuwanderer – in Spanien zum Beispiel war Ende 2010 knapp jeder dritte Migrant ohne Arbeit, während sich die Arbeitslosenquote für gebürtige Spanier auf 18,4 Prozent belief.

Die Studienautoren warnen eindringlich vor dieser Misere. Es sind nämlich vor allem junge Männer, die keine Arbeit finden. Sollte es nicht gelingen, sie in die Erwerbsgesellschaft zu integrieren, drohen soziale Unruhen mit unabsehbaren Konsequenzen. Die rezessionsbedingte Schwäche des Migrationskreislaufs hätte dann einen politischen Infarkt zur Folge. Seite 7

E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2011)

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