Poetisch: Richard Walls Bericht aus der irischen Provinz.
Der österreichische Schriftsteller Richard Wall kam 1975, als junger Mann, zum ersten Mal nach Connemara, der westirischen Provinz, die der Grafschaft Galway zugehörig ist. Die Frage, was ihn, den Binnenländer, an diesem entlegenen Landstrich fasziniert, erübrigt sich nach der Lektüre dieses poetischen Berichts, der vieles in einem ist: ein brauchbarer Wanderführer; ein ebenso nützliches Geschichtsbuch, das seine Sympathie für die nicht nur von Stürmen, sondern auch vom britischen Kolonialismus zerrupften Fischer und Kleinbauern offenbart; ein Abriss der irischen Sprache, Literatur und Musik; eine archäologische, dabei unvergleichlich lebendige Studie über Gerät-schaften, Tätigkeiten und soziale Beziehungen, die dem herrschenden Ökonomismus zu erliegen drohen; ein heimliches Selbstporträt insofern, als sich die Seelenlage des Autors in der gleichzeitig nüchtern und emphatisch geschilderten Umgebung zu spiegeln scheint.
Wall gelingt das Kunststück, zwei einander ausschließende Impulse bei der Annäherung an eine fremde, dann zunehmend vertraute, schließlich innig geliebte Umgebung zusammenzuführen: je nach Bedarf „das Ruder in der Strömung treiben lassen“ oder sich „fest in die Riemen zu legen“. Zwar mit Geduld und Geschicklichkeit durchs Land zu schweifen, aber voll Neugier und Entdeckerfreude auf die Menschen zuzugehen, an ihren Erfahrungen teilzuhaben und das Erfahrene in Büchern zu vertiefen.
Unaufdringliche Gelehrsamkeit
Walls Empathie, seine klare, anschauliche Sprache, seine Fähigkeit zu unaufdringlicher Gelehrsamkeit sind ein Vergnügen. Man glaubt, wovon er berichtet, vor sich zu sehen (freut sich aber über die Fotos), man riecht und spürt Tang und Gischt und den Rauch des Torffeuers, folgt seinem Blick aus dem Küchenfenster, von dem er ausgeht, den er immer wieder nach draußen richtet, teilt seinen Unmut über einen törichten Dorfpfarrer, der die Büsche um seine Kirche roden lässt, um Parkplätze zu schaffen, freut sich über stoische Junggesellen und zähe Witwen, über den Zeitvorrat, der ihnen nicht knapp zu werden scheint, wundert sich über die Hartnäckigkeit, mit der sie an ihrer unprofitablen Lebensweise festhalten, nimmt sogar die Risswunde in Kauf, die das Bierglas eines eifersüchtigen Barkeepers auf der Stirn des Verfassers hinterlässt, verfällt aber nicht dem Missverständnis, die verschwindende Epoche für die bessere zu halten: Wall ist kein Apologet des entbehrungsreichen Lebens, gegen eine zerstörerische oktroyierte Zivilisation gesetzt.
Wenn er, nicht ohne Wehmut, einen Schritt zurück macht, dann nur, um die Gegenwart zu erkunden, auch um die Knoten und dünn gescheuerten Stellen der irischen Geschichte zu finden, an denen sie einen anderen, günstigeren, gerechteren Fortgang hätte nehmen können. Er zitiert den 1988 verstorbenen Dichter Máirtín Ó Direáin, dessen lyrische Aufforderung, „die Funken deiner Vision zu schüren“, denn: „Die Trennung von ihr ist der Tod“. Auch so ließe sich dieses ausnehmend schöne, liebevoll gestaltete Buch charakterisieren: als eine lange prägnante Prosaübersetzung von Ó Direáins Versen. ■
("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2011)