Türkei: Hrant Dinks Todesschütze verurteilt

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Der 21-jährige muss für den Mord am armenischen Journalisten für 23 Jahre in Haft. Doch Gerüchte um eine Verwicklung der Behörden in den Fall wollen nicht verstummen. Vier Jahre hat der Prozess gedauert.

Istanbul/Wien/Ag. In den vier Jahren, die der Prozess gedauert hat, ist er merklich gealtert. Und doch ist er noch immer bestürzend jung für einen Mörder. Nach seiner Festnahme war Ogün Samast ein schmalgesichtiger Bursche mit Dreitagebart, auf dem Kopf eine Baseballkappe mit Türkei-Emblem. Heute trägt er Anzug, der Bart ist ab, eine Brille sitzt im merklich gerundeten Gesicht.

Als Samast den armenischstämmigen Intellektuellen und Journalisten Hrant Dink vor der Istanbuler Redaktion seiner Zeitschrift „Agos“ erschoss, war er 17. Heute ist er 21 Jahre alt. 23 Jahre, länger als seine bisherige Lebenszeit, soll der Türke hinter Gittern verbringen. Laut Medienberichten muss Ogün Samast aber nur zwei Drittel der Strafe absitzen. Wird die vierjährige Untersuchungshaft auf die Haftzeit angerechnet, bleiben knapp elf Jahre Gefängnis übrig.

Bei seiner Verhaftung zeigte Samast keine Reue; heute weist er jegliche Schuld von sich. Im Gerichtssaal erklärte der junge Mann, dass ihn Zeitungen und Kolumnisten zu dem Verbrechen angestiftet hätten. „Wie hätte ich sonst von Hrant Dink oder Agos gewusst, wenn sie nicht über ihn geschrieben hätten?“ Samast, der aus der Schwarzmeerstadt Trabzon stammt, war zum Zeitpunkt der Tat arbeitslos. Eine spontane Gewalttat war es dennoch nicht, was sich am 19.Jänner 2007 ereignete.

Hassobjekt der Nationalisten

Der Mord war der traurige Höhepunkt eines nationalistischen Furors über angebliche „Türkenfeinde“ im eigenen Land. 2005 war Dink nach dem umstrittenen Paragrafen 301 verurteilt worden, der eine „Verunglimpfung des Türkentums“ ahndet; er hatte in einem Artikel an einem türkischen Tabu gerüttelt, den Völkermord an den Armeniern zur Zeit des Ersten Weltkriegs als solchen bezeichnet. Gegen seine Verurteilung hatte Dink Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.

Nationalisten waren er und andere liberale Intellektuelle deshalb ein Dorn im Auge. Der Anwalt Kemal Kerinçsiz, später als mutmaßlicher „Eregenekon“-Verschwörer verhaftet, brachte nicht nur Dinks Fall zur Anzeige, er ließ die Justiz auch gegen den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und die Schriftstellerin Elif Safak ermitteln. Samast aber griff zur Waffe. Er hatte Kontakte in rechtsextreme Kreise, absolvierte Schießübungen; mutmaßliche Komplizen, darunter ein Polizeispitzel, stehen noch vor Gericht.

Für Hrant Dinks Angehörige mag das Urteil eine späte Genugtuung sein. Doch bis heute werfen sie den Behörden auch vor, der mutmaßlichen Verwicklung von Sicherheitskreisen nicht nachgegangen zu sein.

Schützenhilfe hatten Dinks Unterstützer unlängst von einem anderen türkischen Gericht erhalten: Im Juni wurden zwei Armeeoffiziere zu sechs Jahren Haft verurteilt, weil sie Hinweise auf eine Morddrohung gegen Dink ignoriert hätten. Auch der türkische Staat musste nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Schmerzengeld an die Hinterbliebenen zahlen: Der Staat habe das Leben des Journalisten nicht ausreichend geschützt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2011)

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