Eins, zwei, drei: Faust ist am Ende mausetot

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Salzburger Festspiele: Nicolas Stemann macht Goethes Welttheater zu einer großen Show. Die weiß nur stellenweise mit tollen Schauspielern aus Hamburg zu entzücken. Sehr viel an diesem Zeug blieb jedoch inkommensurabel.

Ist „Faust, der Tragödie erster und zweiter Teil“ von Johann Wolfgang Goethe, ein Lesedrama? Ja. Eine Variante davon konnte man am Donnerstag in kurzen Sequenzen bei den Salzburger Festspielen auf der Perner-Insel in Hallein erleben, bei der Premiere der Inszenierung von Nicolas Stemann, einer Koproduktion des Thalia Theaters Hamburg. Das blieb der schönste Teil des Abends. Der andere war ein Ragout, das manchmal halbfertig schien und nur in den besten Momenten ein Festmahl wurde. Famulus Stemann hat sich an diesem Monstrum kräftig überhoben. Das macht sein Team an ausgesuchten Spitzen-Schauspielern nicht wett. Der Abend ist eine grausame Versuchsanordnung, die testet, was Darsteller und Publikum ertragen können.

Die erste von mehr als sechs Stunden reiner Spielzeit gehört Sebastian Rudolph. Er sitzt auf fast leerer, schwarzer Bühne, die von Technikzeug gesäumt ist, an einem einfachen Tisch und liest aus einem gelben Büchlein vor. Gelangweilt wie ein Schüler oder streng pädagogisch aspiriert, gibt er Kostproben aus „Zueignung“, „Vorspiel auf dem Theater“, „Prolog im Himmel“ und dem gewaltigen Monolog des Doktors. Er spielt also nicht nur den Faust, sondern auch noch Gottvater, den Teufel, die Engel, den Schauspieldirektor und all die anderen Laffen – der Auftritt ist ziemlich gut geraten.

Postdramatische Beliebigkeitsbühne

Aber der „Faust“ kann nicht nur ein Lese-, sondern auch ein Discodrama sein, wenn er in dem Ambiente spielt, das Stemann mit Bühnenbildner Thomas Dreißigacker geschaffen hat; eine postdramatische Beliebigkeitsbühne mit viel Spielzeug, bei der man Goethe mit einer nicht gehaltenen Salzburger Rede von Jean Ziegler zusammenbasteln kann. „Burgstaller!“ Die böse Landsmutti? Da jauchzt das Publikum, wenn es eine Breitseite gegen die Festspiele und den Kapitalismus gibt. Es geht ganz plakativ um das Geld und die Ausbeutung. Zwei riesige Spruchbänder säumen die Zusehertribüne: „Des Denkens Faden ist zerrissen“ und „Du hast sie zerstört, die schöne Welt“.

Goethe, der Maschinenstürmer, ein Sympathisant der Weimarer autonomen Szene – das ist schon fast so schön wie Massenwahn und tut dem alten Geheimrat, der sich seine Helena mittels großer Mengen Rotwein herbeifantasierte, gar nicht weh. Stemanns Faust ist nämlich auch ein serieller Egotrip mit schizophrenen Zügen. Er beschränkt sich darauf, Teil eins von drei Schauspielern präsentieren zu lassen, die nicht nur elend lange Passagen alleine bewältigen, sondern zudem auch in andere Rollen schlüpfen müssen. Nach Rudolphs großer Stunde kommt Philipp Hochmair als Mephisto dazu, der ebenfalls andere Rollentexte, selbst die von Faust, zitiert. Das wirkt recht dämonisch. Dieser Teufel faschiert die Verse und scheut auch nicht die Wiederholung. Wie bei einem Wettlesen blättern die beiden in ihren gelben Textbänden. Das von Rudolph ist schon ganz lädiert, er hat es zuvor verzweifelt zerrissen. Er ist der Pädagoge, Hochmair der unverbildete Zyniker.

Schließlich schlägt noch die Stunde des Gretchen. Patrycia Ziolkowska gibt sie, eine erotische, intensive Erscheinung mit wunderbar verruchter Stimme. Wird sie auch andere Frauen zitieren? Nein, noch viel mehr! Auch Ziolkowska ist manchmal Faust und Mephisto, mit denen sie in einer Verführungsszene einen Dreierpakt vollzieht. Das ist zwar charmant, aber ziemlich anstrengend. Es wird einem so wirr im Kopf, dass man sich vorkommt wie der Schüler, der von Mephisto übers Studium instruiert wird. Hoffentlich wissen wenigstens die drei Schauspieler, wie viele Seelen sie gerade aus ihrer Brust herausquetschen und in welcher Erinnerungsschleife sie sich befinden.

Zwei Stunden sind vorbei, und es ist sieben Uhr. Weitere zwei Stunden vergehen, und es ist erst halb acht und immer noch der erste Teil. Auch bei dem Trio auf der Bühne stellt sich eine gewisse Ermüdung ein, just, während Walpurgisnacht, Faustens Flugstunden, die Verführung und Margaretes Fall voll im Gange sind. Dann fällt auch noch ein Mikrofon aus, genau an einer der wenigen Stellen, die Stemann ernst zu nehmen scheint. Zum Heulen? Ja. Faust ist nicht nur ein Rührstück, sondern eine hundsgemeine Herausforderung, bei der sich jede Schwäche erbarmungslos zeigt. Inkommensurabel sei sein Werk, ahnte der Dichter. Das wird im zweiten Teil schmerzlich spürbar.

Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit

Der Faust-Stoff kann auch ein Kasperltheater sein, ein fetziges Puppenspiel für Jahrmärkte, zu dem die Geschichte in Goethes Kindheit geworden war. Stemann hat sich dazu entschlossen, seine Leute und das Publikum mit eitlem Tand zu quälen. Der Text der ersten zwei Akte von Teil II wird zur Klangtapete, während Stemann seine multimediale Show mit allen Registern durchzieht, mit einer Muppet-Show, schattenhaften Videos und viel Belehrung über den Lauf der Welt. Das Trio wird durch drei weitere intensive Schauspieler verstärkt. Die großartige Barbara Nüsse spielt den alten Goethe und droht damit, dass dieser Faust ungestrichen gespielt wird. Eine Reinhardt-Puppe tritt auf und bekräftigt diese Lüge.

Wie Marionetten wirken auch skurrile Professoren, die auf Video klassische Banalitäten von sich geben. Josef Ostendorf singt und tanzt und jubiliert wie ein verrückter Theaterkaiser, Birte Schnöink ist bezaubernd androgyn. Auch Musiker und Tänzer helfen nun dabei, die verwirrende Ordnung Goethes, diese Tour de Force vom Mythos Griechenland bis zum Vormärz in eine ordentliche Verwirrung zu verwandeln. Kommt das Zitieren ins Stocken, behilft man sich mit Sprichwörtlichem aus Teil eins. Die Botschaft, die man zu hören glaubt: „Schmeck's, liebes Publikum! Wir ziehen unser Ding durch.“ Sogar die eigene Spielweise wird verhöhnt: Hochmair als greiser Goethe erinnert sich weinselig an die Erfindung des Theaters in der Machart Stemanns.

Nach arg viel Mummenschanz nähert sich die Mitternacht; die Szenen mit Helena sind klassisch ruhig, auch der geschäftige fünfte Akt steckt voller putziger Einfälle. Goethes Landhausmodell brennt. Skylines mit Wolkenkratzern werden umgestoßen. Freiheit! Freiheit? Stattdessen verkommt das Finale zur Schnulze über das Ewigweibliche. Täuschen die Sinne, oder haben die Hamburger Truppe und das brave Publikum tatsächlich zu schunkeln begonnen? Applaus braust auf. Faust ist jetzt wirklich mausetot.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.07.2011)

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