"Wikimania": Die Konferenz der Weltverbesserer

Wikimania Konferenz Weltverbesserer
Wikimania Konferenz Weltverbesserer(c) FABRY Clemens
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Seit 2005 strömen alljährlich die Autoren des Internet-Lexikons Wikipedia aus allen Ecken der Welt zu einem Gipfel. Ein Bericht über Menschen, die mehr Wissen in die Welt bringen wollen.

Ihr habt die Welt verändert!“, ruft Yochai Benkler. Vor dem Professor sitzen 600 Menschen, einige haben blaue Gesichter, angeleuchtet vom Licht ihrer Notebooks. „Niemand hätte gedacht, dass Menschen ohne Geld ein Lexikon erschaffen“, fährt der Hochschullehrer fort.

Der bärtige Mann wirkt winzig auf der Riesenbühne, eine Kamera wirft ihn überlebensgroß an eine Leinwand, neben die Folien seiner Präsentation. Trotzdem überstrahlt Yochei Benkler alles, ja, er scheint förmlich zu leuchten. Der Professor forscht über Internet und Gesellschaft und hielt den Eröffnungsvortrag bei der „Wikimania“, der jährlichen Konferenz der Autoren der Online-Enyklopädie Wikipedia. Vier Tage, bis zum gestrigen Samstag, war die nordisraelische Hafenstadt Haifa ein Woodstock des freien Wissens.

Seit 2005 treffen sich die Autoren des Internetlexikons jährlich immer in einer anderen Stadt. Los ging es in Frankfurt am Main, andere Stationen waren unter anderen Buenos Aires, Alexandria und im vorigen Jahr Danzig.

Anfangs belächelt, jetzt respektiert.Während des Vortrags des Professors haben die Organisatoren das Internet im Saal abgeschaltet, damit die Zuhörer sich konzentrieren. Benkler erzählt den Zuhörern, dass die Wissenschaft zu ergründen versuche, warum Menschen wie sie freiwillig und ohne Geld an Projekten wie Wikipedia arbeiteten. Sein Fazit: „Menschen sind nicht so egoistisch, wie die Wirtschaftstheorie glaubt.“ Mehr als zehn Jahre gibt es das Online-Lexikon tatsächlich schon, anfangs verlacht, wird es nun von Millionen auf der Welt genutzt.

Alexander Wagner sitzt im Publikum, ihn freut, dass er nicht allein ist mit seiner Leidenschaft. Er schreibt seit 2006 bei Wikipedia, ihn interessiert die Geschichte seiner Heimat – Sankt Pölten. Neben seiner Arbeit und seinem Ehrenamt als Rettungssanitäter investiert er auch fünf bis zehn Stunden pro Woche in Wikipedia, sein Hobby, er recherchiert, schreibt Artikel und beseitigt Vandalismus.

Steter Kampf gegen Vandalismus. Jeder kann in dem Online-Lexikon mitschreiben. Manche Schreiber löschen freilich Absätze in den Beiträgen, schreiben bewusst oder unbewusst falsche Informationen hinein oder versuchen, ihre Ideologie als objektive Information unterzubringen. Menschen wie Alexander Wagner versuchen das zu verhindern und solchen Vandalismus zu beheben. Das ist nicht schwierig, da in dem Online-Lexikon jede Version seines zeitlichen Zustands gespeichert wird und sich einfach wieder herstellen lässt. Natürlich gibt es deswegen mitunter Diskussionen oder gar Streit.

Was motiviert Wagner, seine Zeit umsonst zu opfern: „Es macht einfach Spaß“, sagt er. Zudem sieht er seine Zeit nicht als umsonst geopfert an, er fühlt auch ein wenig Stolz, anderen Menschen gratis Wissen zur Verfügung zu stellen. Hier in Haifa genießt er die Gemeinschaft der Gleichgesinnten. Warum aber treffen sich die Autoren in der Realität, wenn sie doch ansonsten virtuell miteinander arbeiten? „Das erzeugt Gemeinschaft“, sagt Jimmy Wales, der Gründer des Online-Lexikons (s. Interview).

„Ich treffe hier Leute aus den USA, und wir bereden, wie wir zum Beispiel bessere Fotos für unsere Artikel beschaffen können“, sagt Wagner. Zwar kennt er einige der Leute schon aus dem Netz, aber hier lassen sich Verbindungen viel einfacher knüpfen.

Weil die Konferenz in der 270.000-Einwohner-Stadt Haifa stattfindet, haben freilich viele Autoren aus moslemischen Ländern keinen Zugang: Saudiarabien etwa oder sogar Malaysia verbieten ihren Bürgern die Reise nach Israel. Andere wollen nicht mit Journalisten reden, aus Angst, dass daheim jemand von ihrem Besuch in Israel erfahren könnte.

Wiki auf Konkani. Manche reden hingegen gern, wie etwa der Inder Gurudatha Bantwalkar. Der Sprachwissenschaftler arbeitet bei einer Nichtregierungsorganisation in der südindischen Hafenstadt Mangalore. Zu Wikipedia kam er, als er vor drei Jahren anfing, über die Tempel und die Kultur seiner Heimatregion Artikel zu schreiben. Jeden Tag widmet er mindestens eine halbe Stunde seinem Hobby. In Haifa sucht er Hilfe, denn er möchte das Online-Lexikon auch in der Sprache seiner engeren Heimat verfügbar machen: Konkani. Wie die übliche Wikipedia mit Artikeln in Englisch, Deutsch, Spanisch, Russisch, Finnisch und vielen anderen Sprachen, sogar in Yoruba und Alemannisch, soll es auch eine in Konkani geben. Das Potenzial wäre da: Rund 3,6 Millionen Menschen zählt die Sprachgemeinschaft, Internet findet Verbreitung, die Bildung steigt. Aber es gibt ein Problem: Ihre Sprecher verteilen sich auf vier Regionen (vor allem auf Goa), und jede hat ein anderes Alphabet. Das heißt: Die Sprecher verstehen einander, wenn sie reden, aber nicht, wenn sie einander schreiben.

Gurudatha Bantwalkar hofft, bei der Wikimania Leute zu finden, die ein Programm entwickeln, welches die Schriftsprache der vier Konkani-Versionen untereinander übersetzt. Zu Hause will er sich zudem an Unis wenden, um neue Autoren zu gewinnen.

Eigentlich ist Wikipedia ein Internet-Lexikon, aber mancherorts gibt es kein Internet. „Wir sind mit einer installierten Version auf gespendeten Computern nach Kamerun gereist“, erzählt Mayan Bar'On bei einem Vortrag.

Die Studentin berichtet etwas schüchtern von ihren Erfahrungen in Afrika. Die Ben-Gurion-Universität in Be'er Scheva (Israel) schickte die 27-Jährige mit gespendeten Computern in ein Dorf nach Kamerun. Auf dem PC war eine installierte Version von Wikipedia, die auch ohne Internet funktioniert. Mayan Bar'On schildert, wie sich Kinder in dem Dorf Schulbücher nun nicht mehr teuer kopieren müssen, sondern einfach bei den Computern nachschauen können.

Aus dem Publikum kritisiert jemand, dass sich die Dorfbewohner bei Wikipedia womöglich medizinische Ratschläge holen, statt zu einem Arzt zu gehen. „Aber dort gab es keinen Arzt, und besser Informationen aus Wikipedia als keine“, antwortet Bar'On. In der Pause diskutiert sie im Garten des Konferenzzentrums mit dem besorgten Besucher weiter.

„Xhosa ist so romantisch!“ Neben den beiden sitzen zwei glückliche Männer, auch sie wollen Wikipedia in Afrika verbreiten. Genauer, in den lokalen Sprachen: „Ja, lass uns das machen“, Nhlanhla Mabaso lacht. Sein Gesprächspartner Gerard Meijser grinst: „Fassen wir zusammen: Wir sorgen für Schriftarten, und Sie versuchen, Ihre Studenten zu begeistern.“ Dann möchte Meijser noch wissen: „Warum Xhosa?“ Sein Gegenüber lacht noch breiter, dann holt er mit den Armen aus, als wollte er eine Arie singen: „Xhosa ist so eine romantische Sprache.“ Beim Wort Xhosa erzeugt er nach dem X ein Klicken in seinen Backen.

Nhlanhla Mabaso stammt aus Südafrika. Es finden sich nur wenige Autoren, die mitmachen wollen. Er arbeitet an der Universität Witwatersrand in Johannesburg und kümmert sich um die IT der Hochschule. Wenn er wieder daheim ist, möchte er Professoren für Wikipedia begeistern.

Unis balgen sich um Präsenz. In den Vereinigten Staaten kontaktiert die Wikimedia-Stiftung Hochschulen, um neue Autoren zu gewinnen. Die Stiftung finanziert sich über Spenden und kümmert sich um den Betrieb des Online-Lexikons, sie bezahlt nicht nur die Technik, sondern sorgt auch für die Verbreitung der Mitmachidee.

Frank Schulenburg etwa arbeitet bei Wikimedia in den USA, in seinem Vortrag erzählt er vom Campusprojekt: In den USA wurden 17 Universitäten angesprochen. Die Idee: Professoren sollten ihre Studenten statt Seminararbeiten Wikipediaartikel schreiben lassen. Am Ende machten 32 Universitäten mit, darunter große Namen wie Harvard oder Berkeley.

„Die Studenten waren begeistert“, ruft Schulenburg seinen Zuhörern in Haifa entgegen. Die allermeisten Jungakademiker würden sonst viele, viele Seiten Papier vollschreiben, die höchstens ihr Dozent lese – sogenannte Wegwerfarbeiten –, nun wüssten sie, dass ihre Arbeit der ganzen Welt per Internet zur Verfügung steht. „Wir hatten etwa einen Studenten, der schrieb über die Nationaldemokratische Partei Ägyptens, damaliger Vorsitzender war Hosni Mubarak. Der Artikel hatte im Dezember ein paar hundert Leser, dann kam der Arabische Frühling, und es wurden zehntausende“, berichtet Schulenburg.

Er möchte das Projekt an Universitäten auf der ganzen Welt verankern. Noch stößt er dabei freilich auf Ablehnung, viele Professoren betrachten das digitale Mitmachlexikon als unseriös: „Andere freuen sich, dass wir zu Ihnen kommen“, sagt Schulenburg.

Kontrolleure gesucht.Wikipedia benötigt für sein Bestehen und für seine Zukunft freilich nicht nur Geld; die Technik wird ohnehin immer billiger: Viel wichtiger sind die Autoren, oder genauer Menschen, die sich die Zeit nehmen, die zahllosen Artikel zu kontrollieren. Eben solche Menschen wie Alexander Wagner aus Sankt Pölten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.08.2011)

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