Gastkommentar. Warum David Camerons Antwort auf die Krawalle in seinem Land kurzsichtig und potenziell gefährlich ist.
Keine Frage, die britischen Jugendlichen, die sich beim Plündern mit Computern und Sportswear eingedeckt haben, sind individuell für ihre Taten verantwortlich. Und trotzdem machen es sich Premier David Cameron & Co. zu leicht, wenn sie sich darauf beschränken, die Täter strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen und die geplanten Einsparungen bei der Polizei zu streichen. „There is no such thing as society“, sagte Margaret Thatcher vor 25 Jahren. Und auf eine Weise hat sie sicher recht: In Großbritannien gibt es nämlich nicht eine Gesellschaft, sondern mehrere.
Laut der OECD ist nirgendwo sonst in der EU der Wohlstand so ungleich verteilt. Die soziale Kluft zwischen der Nobelgegend Mayfair und einem ärmeren Viertel wie Brixton sollte in einem demokratischen Industrieland eigentlich kleiner werden. Stattdessen nähern sich London und Liverpool in dieser Hinsicht Städten wie Caracas oder Buenos Aires an.
Auch wenn die Plünderer zum Teil in mittelständischen Gegenden Schaufenster eingeschlagen haben: Londons Millionäre können das Wüten des Pöbels gelassen ignorieren; bestohlen wird der Inder an der Ecke.
In Südamerika ist das nicht anders. Geraubt und gemordet wird in erster Linie unter den Armen. Es reicht, wenn einer ein bisschen weniger arm und im Barrio mit seinen neuen Sportschuhen oder dem Glitzerhandy unterwegs ist. Wer keine Chance auf sozialen Aufstieg hat, holt sich das Statusobjekt manchmal eben mit Gewalt. Natürlich sind São Paulos Reiche nicht paranoid, wenn sie sich hinter Stacheldraht verbarrikadieren und im verriegelten Auto fahren. Doch unterm Strich ist es weit gefährlicher, arm zu sein.
„Fehlende soziale Kohäsion“ nennen die Experten dieses Phänomen völlig verschiedener Welten, die räumlich mitunter nur einen Steinwurf voneinander entfernt sind. Wohnungen in oberen Stockwerken an der feinen Avenida Libertador in Buenos Aires bieten einen grandiosen Ausblick auf Villa 21, ein zentral gelegenes Armenviertel der argentinischen Metropole. Es gibt wahrscheinlich kein einziges Dokument der EU über ihre Lateinamerikapolitik, in dem es nicht heißt, dass diese, von Mexiko bis Feuerland, auf eine stärkere soziale Kohäsion abziele.
Es gibt historisch unterschiedliche Gründe, wenn es im Norden und im Süden zu so stark fragmentierten Gesellschaften kommt. Während man in Argentinien leicht auf die Idee kommen kann, dass die Regierung kein Interesse an besseren Schulen für mehr Kinder hat – Unwissende sind leichter manipulierbar –, wäre es gewagt, den britischen Konservativen nachzusagen, sie wollten die Arbeiterklasse und Einwanderer mit solchen Hintergedanken von guter Bildung fernhalten. Trotzdem ist es nirgendwo sonst in Europa für das Schicksal eines Kindes bestimmender, welche Mittel- oder gar Grundschule es besucht hat.
Wichtiger Zugang zu Bildung
Der gleichberechtigte Zugang aller zu einer qualitativ zufriedenstellenden Bildung ist eine zentrale Voraussetzung für eine friedliche und wohlhabende Gesellschaft, weswegen die Politik sich da gar nicht genug anstrengen kann. Südamerikaner können es nicht glauben, wenn sie hören, dass der Besuch einer passablen Mittelschule in Österreich und Deutschland praktisch kostenlos ist.
Der Eton-Absolvent David Cameron redet davon, dass „Teile der Gesellschaft“ – es gibt sie also doch! – „krank sind“ und er „moralische Werte“ wiederherstellen wolle. Werte sind wichtig, aber ob eine solche Gardinenpredigt die Ursachen der Krawalle beseitigt? Mehr Ressourcen für die Ausbildung von Kindern aus der Unterschicht wären zielführender, sichern aber nicht den Gewinn der nächsten Wahl.
Cornelia Mayrbäurl war sechs Jahre lang freie Journalistin in Südamerika und arbeitet nun als Beraterin in Wien.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.08.2011)