Großbritannien. Experten sehen die Krawalle als Folge der Vernachlässigung und einer brutalen „Me first“-Philosophie.
London/Wien. „Wegen der Kohle“, lallt der vermummte Jugendliche dem Reporter von „Sky News“ auf die Frage, warum er bei den Randalen in Manchester dabei ist, ins Mikrofon. „Und um die Polizei zu ärgern. Die haben mich schon wegen so blöden Sachen hochgenommen. Jetzt machen wir, was wir wollen, und sie können uns nicht aufhalten.“
Die Antwort zeigt, dass die Krawalle, Brandstiftungen, Plünderungen und Morde mit dem ursprünglichen Auslöser der Unruhen sehr schnell nichts mehr zu tun hatten. Eine Woche ist es her, dass die friedliche Mahnwache für den 29-jährigen Mark Duggan im Londoner Stadtteil Tottenham eskalierte – rund 100 aufgebrachte Angehörige und Nachbarn hatten sich vor der Polizeistation versammelt und Antworten auf die Frage verlangt, warum der vierfache schwarze Familienvater und mutmaßliche Drogendealer zwei Tage zuvor von Beamten erschossen worden war.
Warum Stunden später die Tottenham High Road brannte und es zu einem landesweiten Flächenbrand kam, soll nun der Innenausschuss im Unterhaus untersuchen. Erklärungsversuche gibt es viele: „Die Polizei hat das selbst provoziert, so wie sie uns hier behandeln“, sagt ein Mann aus Hackney, der sich „Frank“ nennt, zur „Presse“. „Ich bin nicht vorbestraft, nur ein einfacher schwarzer Mann. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, wie oft ich schon grundlos von der Polizei angehalten und durchsucht wurde.“
Nach Angaben des Londoner Thinktanks „Runnymeade“ werden Schwarze in Großbritannien von der Polizei siebenmal so häufig auf der Straße angehalten und kontrolliert wie Weiße. Aufgestaute Wut über die „Stop-and-search“-Praktik galt 1985 als Mitauslöser für die „Broadwater Farm Riots“, die letzten großen Krawalle in Tottenham.
Doch längst nicht alle Randalierer und Plünderer bei den Ausschreitungen waren schwarz – Alistair Thompson, Sprecher vom Thinktank „Res Publica“, sieht das Problem daher vielmehr im Zusammenbruch der sozialen Strukturen in Teilen der britischen Arbeiterklasse: „Einige Menschen in diesen Vierteln haben nicht nur das Vertrauen in die Polizei, sondern in alle Institutionen des Staates und die Politik verloren“, so Thompson. Sein Thinktank prägte den Begriff von der „Broken Society“, der kaputten Gesellschaft, die Regierungschef David Cameron zuletzt beklagte. „Diese Leute fühlen sich nicht mehr als Teil der Gesellschaft, sie haben sich völlig abgekoppelt.“
Thompson macht 40 Jahre verfehlte Politik von beiden Seiten des politischen Spektrums verantwortlich. „Von rechts war es die Politik des Freien Marktes, diese Philosophie von „Jeder guckt nur nach sich selbst“. Und von links die Übermacht des Staates, die in alles hineinregiert und die Leute entmachtet hat.“ Ähnlich sieht es Steven, arbeitsloser Jugendarbeiter aus Hackney: „Ich weiß, es ist nicht politisch korrekt, aber was den Kindern heute fehlt, ist Disziplin. Sie fürchten sich vor nichts und niemandem.“
Mehr als die Hälfte der bisher über 1500 Festgenommenen sind keine 18 Jahre alt, viele arbeitslos – doch es waren auch ein 40-jähriger Koch, ein Grafikdesigner in den Zwanzigern, ein 31-jähriger Hilfslehrer, ja Studenten dabei. Eine Gesellschaft, in der die oberen zehn Prozent mehr als 100-mal so viel besitzen wie die untersten zehn Prozent, könne nicht funktionieren, sagt Thompson. Doch die entfesselte Gier der Plünderer, die Markenschuhe und Plasmafernseher wegschleppten, nennt auch er „shocking“.
Eine Machtdemonstration
Shocking – aber überraschend? Für Clive Bloom, Autor von „Violent London: 2000 Years of Riots, Rebels and Revolts“ ist der „britische Sommerschlussverkauf“, wie die Krawalle ironisch in Anlehnung an den „Arabischen Frühling“ genannt werden, ein neuer und erwartbarer Typus von Aufstand, der sich nicht mit den Unruhen der Achtziger vergleichen lasse. Bloom nennt es „aspirational rioting“: „Verkürzt ausgedrückt heißt das: Ich randaliere nicht, um eine Idee auszudrücken, sondern weil ich das will, was du in deinem Shop hast. Eine sehr extreme Form von Kapitalismus.“ Dieser gedeihe (nicht nur, aber vor allem) in den seit Jahrzehnten von Polizei und Politik vernachlässigten No-go-Areas der Städte, wo Junge ohne Ausbildung oder Familienstruktur den Gangs überlassen würden. „Der Tod Duggans war für die Teenager die Ausrede, die Straße zu übernehmen“, glaubt Bloom, „und eine Machtdemonstration.“ So wie das Plündern: „Wenn man den Freunden sagt: ,Das habe ich nicht gekauft, ich habe es einfach genommen und keiner konnte mich hindern‘, dann ist das ein Kick.“
Bloom sieht darin einerseits eine Reaktion auf die Korruption im Land: „Die Jugendlichen reagieren auf das, was in der Politik, den Banken, der Polizei, den Medien passiert, und sie denken: ,Wenn Ihr damit durchkommt, warum nicht auch wir?‘“ Andererseits seien die Übergriffe eine (brutale) Antwort auf die Botschaft der Konsumgesellschaft: „Du bist, was du konsumierst – der neueste Blackberry macht dich wichtig.“
Eine Haltung, die übrigens weder rein britisch noch den „Chavs“, der „Unterschicht“, vorbehalten ist. Laut Jugendforscher Philipp Ikrath sind der Jugend in Europa in den letzten zehn Jahren materialistische Werte wichtiger geworden: „Konsum gilt als Ausweis erfolgreichen Lebensstils.“ Bei ärmeren Schichten falle dies wegen der „klischeehaften Produkte“ bloß mehr auf.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2011)