Der Kampf für die Würde

Arabischer Frühling. Die Motive für die Aufstände sind vielfältig. Ganz vorn steht der Mangel an Freiheit in jeder Hinsicht. Den nahmen die Menschen nicht länger hin.

„Als mein Vater zu uns stieß, traute er seinen Augen nicht. Wir standen dicht neben dem Eingang des Innenministeriums, wo man ihn in den Siebzigerjahren brutal gefoltert hatte. Die Atmosphäre war fröhlich, gelöst, zugleich gefühlsgeladen, voller Empörung, Hoffen und Bangen. Mein Vater bat mich, das Gebäude zu fotografieren, als wollte er den Albtraum, den er durchlitten hatte, für immer bannen.“

Mit diesen Worten schildert die tunesische Aktivistin und Bloggerin Lina Ben Mhenni in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Vernetzt Euch!“, wie sie die entscheidenden Stunden des 14. Jänner erlebt hat. Jener Tag, an dem die Tunesier nach wenig mehr als zwei Wochen wütender Proteste ihren Diktator Ben Ali aus dem Land gejagt haben. Es hatte in den letzten Dezembertagen 2010 begonnen, als kleine Solidaritätsbewegung für einem armen Gemüsehändler mit Matura, der sich in seiner Aussichtslosigkeit selbst verbrannt hatte – und wuchs sich in atemberaubender Geschwindigkeit zu einem Volksaufstand aus.

Wie konnte das im für seine autoritäre Stabilität bekannten Tunesien geschehen? Was brachte die Menschen plötzlich in Scharen auf die Straßen und ließ sie sich furchtlos einer Staatsmacht entgegenstellen, vor der sie bis vor Kurzem noch angsterfüllt den Kopf eingezogen hatten?

Die beste Illustration liefert das Innenministerium, und es ist kein Zufall, dass Ben Mhenni von den vielen Ereignissen dieses Tages ausgerechnet den Marsch auf dieses hoch symbolische Gebäude herausgreift. In diesem kulminierte alles Negative des Regimes, wie in einem Brennglas trafen hier alle Motivstränge der durchaus nicht homogenen Protestbewegung zusammen.

• Unterdrückung politischer Freiheiten: Polizei und die zahlreichen Geheimdienste hatten die öffentliche Meinung und deren Äußerung völlig unter Kontrolle. Man war nirgends vor Spitzeln sicher, systematisch wurden Telefone abgehört, zahlreiche Kritiker des Regimes fanden sich in dessen Folterkellern wieder. Als pluralistische Feigenblätter hielt sich der Diktator einige kleinere Parteien, die als Opposition präsentiert wurden, und ein paar handzahme Oppositionszeitungen. Tunesien – ein Leben im Druckkochtopf. In den Monaten und Jahren vor der Explosion war allerdings eine umtriebige Internetgemeinde entstanden, die versuchte, kreativ die Zensur zu umgehen.

• Gängelung und Polizeiwillkür: Den Launen der Sicherheitskräfte waren die Menschen schutzlos ausgeliefert. Der genannte 26-jährige Gemüsehändler illustriert dies: Die Polizei nahm ihm mehrmals seinen Gemüsekarren weg, mit dem er seine Familie über die Runden zu bringen versuchte, und misshandelte ihn. Viele Tunesier kannten derartige Beispiele aus ihrem Umfeld und es fiel ihnen leicht, sich mit ihm zu identifizieren. Und ganze Kohorten junger, gut ausgebildeter Menschen fanden wie er keinen Job, dank Nepotismus und Klientelwirtschaft.

• Korruption: Der Polizist, der bei einer Kontrolle die Hand aufhält, war zwar der in der Relation kleinste, allerdings der den Menschen vertrauteste Auswuchs der Korruption. Bestechung und Bereicherung reichten hinauf bis in die Familie des Präsidenten, vor allem den verhassten Clan von dessen Frau Leila Trabelsi. Wenig überraschend, dass Demonstranten mit Hingabe Anwesen dieses Clans plünderten. Eine ganz ähnliche Motivlage war in Ägypten zu beobachten, dem zweiten „Avantgarde-Land“ der arabischen Revolutionen.

Experiment Öffnung gescheitert

Beim Versuch, all die Faktoren auf einen Nenner zu bringen, landen viele Autoren beim Begriff der Würde (etwa Tahar Ben Jelloun). Jeder der genannten Missstände hatte auf seine Weise an dieser Würde genagt. Über Jahrzehnte. Bis sie in einem großen Befreiungsschlag zurückerkämpft wurde. Das Streben nach Würde ist die große Gemeinsamkeit aller arabischen Aufstände dieses Jahres, so unterschiedlich sie in ihren Triebkräften und Ursachen sonst sind.

Sehr schön ist das an Bahrain zu sehen: Der kleinste der Golfstaaten, in dem eine sunnitische Oberschicht rund um das Herrscherhaus über eine schiitische Mehrheit herrscht, ist nämlich gerade kein Beispiel für ein besonders repressives Regime gewesen – bis zum Frühjahr 2011. König Hamad al-Khalifa hatte in den vergangenen Jahren mit einer Öffnung des Systems experimentiert: Er hatte Opposition zugelassen und vergleichsweise freie Wahlen. Die Regierung freilich wurde weiter vom König besetzt, bis auf wenige Ausnahmen mit Mitgliedern seiner Familie.

Der große Irrtum der Diktatoren

Das war den Menschen 2011, nachdem al-Jazeera die Bilder aus Tunesien und Ägypten in ihre Wohnzimmer getragen hatte, zu wenig: „Der König gewährte diese demokratischen Insignien als Gabe des Herrschers aus ererbter Kraft und Herrlichkeit. [...] Das Volk aber war mit Gaben nicht mehr zufrieden und verlangte nach Rechten“, schreibt Michael Thumann in seinem lesenswerten Buch „Der Islam-Irrtum“.

Einem solchen saßen auch die gestürzten und die noch ums politische Überleben kämpfenden Diktatoren auf: Sie hatten nicht nur dem Westen immer die islamistische Gefahr – und sich als Gegengift – präsentiert, sie glaubten zu einem Gutteil tatsächlich, dass ihnen von dieser Seite die meiste Gefahr drohe, das zeigt die enorme Repression gegenüber Islamisten in Tunesien, Ägypten oder Syrien. Doch die Idee, einen islamischen Staat zu errichten, spielte als Motiv für die Revolten gar keine Rolle. Dass es in deren Gefolge Kräfte gibt, die den Umsturz für ihre (radikal-islamischen) Zwecke ausnutzen wollen, steht auf einem anderen Blatt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2011)

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