Israel. Steigende Lebensmittelpreise, explodierende Wohnkosten: In Israel sorgt sich die Mittelschicht um ihre Zukunft. Glaubt man dem deutschen Soziologen Berthold Vogel, werden die „Wohlstandskonflikte“ zunehmen.
Wien/Rie. Angefangen hat es mit Hüttenkäse. Um 41 Prozent war der Preis des in Israel so beliebten Nahrungsmittels bis Juni gestiegen. „Das nehmen wir nicht hin“, lautete ein Aufruf zum Boykott auf Facebook. Als der Käse verschimmelte, weil ihn niemand mehr kaufte, senkte der Hersteller tatsächlich den Preis. Das gab Auftrieb.
Vor wenigen Tagen versammelten sich 250.000 Menschen in den Städten Israels, um gegen die hohen Lebenshaltungskosten zu protestieren. Die Wohnungspreise in Tel Aviv waren in den vergangenen vier Jahren um 65 Prozent gestiegen, Hauspreise im Durchschnitt seit 2007 um fast 40 Prozent, die Lebensmittelpreise seit 2005 um 13.
Sorge um Wohlstand und Status
„Uns bleibt nichts mehr zum Leben“, meinte ein Demonstrant, der als Arzt sein Geld verdient. Weitere Demonstrierende: Wissenschaftler, Juristen – „nicht gerade der klassische Typus des entrechteten Bürgers, der sich seinen Vertretern nicht verständlich machen kann“, schrieb der Regisseur Etgar Keret in der „Zeit“.
In Israel passiert, was der deutsche Soziologe Berthold Vogel vom Hamburger Institut für Sozialforschung in seinem Buch „Wohlstandskonflikte“ beschreibt: Die Verteilungskämpfe würden nicht mehr in erster Linie zwischen Arm und Reich ausgetragen, der Klassenkampf finde mehr horizontal als vertikal statt: „Ein Verteilungskampf in der Mitte der Gesellschaft, die um ihren Wohlstand und ihren Status fürchten muss“, erklärte Vogel in einem früheren Gespräch mit der „Presse“.
Die heutige Mittelschicht sei primär durch den Staat entstanden, durch die Ausweitung des öffentlichen Dienstes einerseits, andererseits durch die Steuerung der Arbeitswelt durch Konjunktur- und Subventionspolitik. Auch diverse Förderungen, etwa für den Wohnbau, und der freie Zugang zu Bildung habe die Menschen in die Mittelschicht gehoben. Dadurch sei sie immer sehr staatsbedürftig gewesen, sagt der Soziologe. Jetzt müsse der Staat sparen, die Mittelschicht werde nervös, weil sie um ihren Status fürchten müsse. Die Mitte der Gesellschaft verfalle zwar nicht, sie spalte sich aber auf. Das führe zu Spannungen: Beim Versuch, die eigene Position zu stärken, bleibe die solidarische Gesellschaft auf der Strecke. Wohlstandskonflikte seien unvermeidbar.
Von der Politik vernachlässigt
Die einzige Alternative: „Um den Status quo zu garantieren, zehrt sich der Staat aus, die Verschuldung explodiert. Er verbraucht das Kapital, das notwendig ist, um den Wohlstand einer künftigen Generation zu sichern.“ Auch das führe zu Konflikten.
In Israel, beschreibt Keret, würden sich die Menschen „unverstanden“ und von der Politik vernachlässigt fühlen, sie würden keine genuine politische Repräsentanz finden. Dazu kommt, wovor Vogel gewarnt hat: Dem Staat fehlen die Mittel um gegenzusteuern. Das erkennt man an der Ankündigung der Regierung, man werde die Strompreise um fast zehn Prozent erhöhen müssen – just während der Demonstrationen. Grund sind die Unterbrechungen von Gaslieferungen aus Ägypten. Die Ankündigung ist Öl ins Feuer der Demonstrationen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2011)