Hinter den Potemkinschen Kulissen der Sozialmechanik

Die Wut der jungen Demonstranten und Randalierer ist gefährlich, weil sie blind ist: Sie wollen, dass alles neu wird, und sehnen sich doch nach dem Alten.

Der Unterschied zwischen den Jugendprotesten und den Jugendkrawallen“, heißt es am Ende des Leitartikels in der aktuellen Ausgabe der Hamburger Wochenschrift „Die Zeit“, „ist eben: Die einen wollen Freiheit und Gerechtigkeit, die anderen Krieg und Flachbildschirme.“ Die einen haben ihr Leben riskiert, um das Joch von Diktatoren abzuschütteln, die anderen riskieren das Leben anderer, um ihre diffuse Wut loszuwerden – und sich gewaltsam zu nehmen, wovon sie glauben, dass es ihnen eigentlich zustünde.

Es gibt nichts, das man nicht auch aus einer anderen Perspektive sehen könnte:

Die Hooliganversteher sehen die Gewalttäter prinzipiell im Recht. Plünderungen und Brandschatzungen seien zwar nicht besonders sympathisch, aber letztlich dürfe man sich nicht wundern, dass die Armen sich auflehnen, wenn die Reichen immer reicher werden, während man den Armen im Zuge der Finanzkrise, die die Reichen verursacht haben, auch noch von dem wenigen nimmt, das ihnen der Staat an Unterstützung zubilligt.

Die Diktatorenversteher in der westlichen Welt halten die jungen Revolutionäre von Tunis, Bengasi und Kairo für nützliche Idioten: Sie würden, sagt man, den Islamisten den Weg bereiten, die man bis dato dank intensiver Kooperation mit den Kleptokraten, deren Herrschaftsinstrumente man zugegebenermaßen nicht für sonderlich elegant hält, von der Macht fernhalten konnte.

Verglichen mit den Anliegen der unter Lebensgefahr agierenden Demonstranten in Libyen, Ägypten und Syrien handelt es sich bei den Anliegen der Indignados von Madrid um Luxusprobleme. Aber erklären Sie einmal einem spanischen Jungakademiker, der damit rechnen muss, im nächsten Jahrzehnt keinen seinen Qualifikationen angemessenen Job zu bekommen, wie glücklich er sich schätzen kann, dass er seinen Zorn darüber öffentlich kundtun darf.

Wie immer man es also sehen will, eine Gemeinsamkeit wird deutlich: Da wie dort agieren junge Menschen, die finden, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Die mehr spüren als verstehen, dass da etwas, eine Gesellschaftsordnung, zu Ende geht. Der Unterschied ist, dass die Alternativen zu einem diktatorischen, die individuellen Grundrechte ignorierenden System bekannt und anerkannt sind: Freiheit, Menschenrechte, Demokratie. Die Alternative zu einer Gesellschaftsordnung, die auf Freiheit, Menschenrechten und Demokratie basiert und darüber hinaus ein komfortables, aber kaum noch zu finanzierendes Sozialsystem anbietet, ist nicht bekannt. Sieht man von einigen neokommunistischen „Gemeinwohl“-Pseudoökonomen ab, agieren noch alle politischen Akteure im alten Sozialmechaniker-Paradigma: Wenn wir die Reichen ein wenig mehr besteuern, können wir uns die wachsenden Kosten für das Sozialsystem schon leisten. Es wäre doch eine Schande, lautet ein beliebter Kalenderspruch der Sozialmechaniker, dass es in unseren reichen Ländern Arme gebe.

Ein Blick hinter die Potemkinschen Kulissen der Sozialmechanik zeigt, dass auch im Zentrum der europäischen Jugendproteste der Begriff der Freiheit steht, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Die „Wutbürger“ unserer Breiten, die vom Staat nichts mehr halten, Politiker verachten und behaupten, dass es so nicht mehr weitergehen kann, demonstrieren nicht dafür, dass etwas Neues kommt, sondern dafür, dass das Alte bleibt. Sie demonstrieren gegen die Reformen, die nötig wären, um den Kern unserer Sicherungssysteme gesund zu erhalten, und man kann es ihnen nicht verübeln. Eigentlich müssten sie gegen ihre Eltern demonstrieren, die sich durch eine entmündigende Vollversorgungspolitik politisch gefügig machen ließen, die mit Krediten finanziert wurden, die jetzt kaum noch zu finanzieren sind.

Die Jungen wollen, dass es anders wird. Der Unterschied zu den Protesten des Jahres 1968 ist, dass damals eine politisch und intellektuell formulierte Alternative zur Verfügung stand. Auch heute wird das politische und wirtschaftliche Establishment abgelehnt, aber von der neuen Gesellschaft, die man sich wünscht, gibt es keine Vorstellung.

Blinde Wut ist besonders gefährlich, für den, der sie hat, und für den, den sie trifft.

E-Mails an: michael.fleischhacker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2011)

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