Weltweite Unruhen: Das Jahr der zornigen Jugend

Weltweite Proteste Jahr zornigen
Weltweite Proteste Jahr zornigen(c) Illustration: Lilly Panholzer
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Ein Grundgefühl jugendlicher Wut durchzieht den Arabischen Frühling, die Proteste der spanischen "Empörten" und die Krawalle in London. Doch die (politische) Motivlage unterscheidet sich gravierend.

Ob zufällig oder nicht, diesmal bewiesen die Vereinten Nationen bei ihrem Gesellschaftsspiel, jedes, aber auch wirklich jedes Datum unter ein bewusstseinsförderndes Motto zu stellen, Weitblick. Schon im August 2010 rief die UNO das „Jahr der Jugend“ aus. Es sollte das „Jahr der zornigen Jugend“ werden, und genau genommen begann es am 17. Dezember.

An diesem Tag übergoss sich in dem staubigen tunesischen Städtchen Sidi Bouzid ein 27-jähriger Mann namens Mohamed Bouazizi mit Benzin und zündete sich an, weil er die Schikanen der Behörden und die eigene Ausweglosigkeit nicht mehr ertrug. Er hatte maturiert, doch keine Aussicht auf einen angemessenen Job, und die Polizei ließ ihn nicht einmal Gemüse verkaufen.

Was folgte, ist mittlerweile Geschichte. Die Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers löste einen Flächenbrand aus, der zuerst den tunesischen Machthaber nach 23 repressiven Jahren aus dem Amt trieb und sich dann in ganz Nordafrika und im gesamten Nahen Osten ausbreitete.

In Zorn geriet in diesem Jahr nicht nur die arabische Jugend. In Spanien erhoben sich die „Indignados“, die Empörten, Griechenland war tagelang lahmgelegt von wütenden Protesten gegen Sparpakete. Und in London und anderen britischen Städten zogen vergangene Woche Vermummte brandschatzend durch die Straßen.

Doch Moment, lassen sich die verschiedenen Ausdrucksformen sozialer Unruhen wirklich alle über einen Kamm scheren? Vergleiche können erhellen und Konturen schärfen, sie können aber auch verdecken und vernebeln. Auch das geschah vergangene Woche. Ausgerechnet die iranische Regierung, die vor zwei Jahren Massenproteste im eigenen Land unerbittlich niedergeschlagen hat und derzeit Syrien bei der Unterdrückung der Demokratiebewegung nach Kräften unterstützt, empfahl den britischen Amtskollegen süffisant, in einen „Dialog mit den Protestierenden“ zu treten.

Es fehlte nicht an Versuchen, die Krawalle nachträglich politisch aufzuladen. Sie seien Ausdruck der Wut über die jüngsten Sozialkürzungen und der Perspektivlosigkeit einer marginalisierten Generation, hieß es schnell von linker Seite. Ursprünglich kamen die britischen Randalierer ganz gut ohne politische Slogans aus. Sie verfassten keine Manifeste, entrollten keine Banner, sie steckten spontan Häuser und Restaurants in Brand. Ziel ihrer Aktivitäten war es nicht, eine neue Ordnung aufzubauen, sondern die bestehende für einen rauschhaften Moment lang zu zerstören, um bei dieser Gelegenheit ein paar Smartphones und Markenklamotten zu klauen.

Randalierer und Freiheitskämpfer

Unruhen wie in London brechen immer wieder aus, und zwar unabhängig von jeder wirtschaftlichen Konjunktur. Die Randalierer mögen meist aus prekären Verhältnissen kommen, politische Motive verfolgen sie jedoch nicht, deshalb sollte man sie ihnen auch nicht entschuldigend unterstellen.

Die Brandstifter von Tottenham haben mehr gemeinsam mit den enttäuschten Eishockey-Fans von Vancouver, die sich im Juni nach der Niederlage ihrer Canucks Straßenduelle mit der Polizei lieferten, als mit den Demonstranten von Kairo. Ihre Wut, Frustration und vielleicht auch ihr verletztes Gerechtigkeitsempfinden bleiben unartikuliert, ihr Handeln asozial und auf den eigenen Vorteil bedacht.

Eine politische Agenda verfolgen hingegen zweifellos die Empörten in Madrid. Ihr Protest gilt ausdrücklich der Jugendarbeitslosigkeit, die in Spanien so hoch ist wie in keinem anderen Land Europas. Unglaubliche 45 Prozent der spanischen Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren sind arbeitslos. Sie empfinden sich ausgeschlossen von einem System, das Schutzmauern für die Alten errichtet hat, aber die Zugbrücke für Jungen nicht mehr herunterlässt. Unter den Folgen der Wirtschaftskrise mussten sie am meisten leiden. Sie verloren als Erste ihre schlecht bezahlten Teilzeitjobs. Von den bestehenden Parteien, von Gewerkschaften fühlen sie sich längst nicht mehr vertreten. Das Forum, um ihren Unmut auszudrücken, schufen sie sich deshalb selbst, erst im Internet, dann auf der Puerta del Sol.

Der Generationenkonflikt verschärft sich

Neu, aber ungleich dramatischer wird der Gesellschaftsvertrag in der arabischen Welt ausgehandelt. Wie sich die Paragrafen letzten Endes ausnehmen werden, kann noch niemand sagen. Mit den Protesten in Europa lassen sich die arabischen aber kaum vergleichen. Denn in Nordafrika und dem Nahen Osten geht es nicht nur um Jobs, es geht um alles. Wer in Damaskus gegen Staatschef Assad auf die Straße geht, riskiert sein Leben. In der politischen Bedürfnispyramide sind die meisten arabischen Völker noch auf einer der unteren Stufen: Sie streben nach Freiheit, Würde und der Chance auf ein halbwegs auskömmliches Leben.

Das UNO-Jahr der Jugend endete übrigens am 11. August. Der Generationenkonflikt wird aber vor allem Europa noch länger beschäftigen, möglicherweise heftiger als bisher. Solange die Wirtschaft stagniert, und das könnte sich hinziehen, werden sich die Karrierechancen der Jugend nicht verbessern. Sie müssen noch warten, ehe sie aus ihrer Ausbildung Nutzen ziehen. Eine bittere Vergeudung von Humanressourcen.

Kein Modell fürs 21. Jahrhundert

Über lange Sicht werden die „Indignados“ ihren Weg in den Arbeitsmarkt wohl finden. Denn anders als im Nahen Osten schrumpft und überaltert die europäische Gesellschaft. Doch wenn die angegrauten Jungen dann einen Job haben, werden sie die angehäuften Schulden abstottern und die Renten für die Alten zahlen müssen. Ein nachhaltiges Modell für das 21. Jahrhundert ist auch das nicht, eher ein Rezept für anhaltenden Zorn.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2011)

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