Sie spüren, dass etwas Neues beginnt

Charles Moore und Frank Schirrmacher fragen sich, ob nicht die Linke recht habe mit ihrer Kritik, dass unser System nur die Reichen reicher und die Armen ärmer macht. Ist das wirklich die Frage?

Die Anzeichen dafür, dass mit der Gesellschaft, in der wir leben, etwas grundsätzlich nicht mehr stimmt, häufen sich. Als jüngstes Fanal gelten die gewaltsamen Ausschreitungen in London und anderen britischen Städten. Der britische Premier David Cameron sprach nach den Krawallen von Tottenham von einer „kranken“ Gesellschaft, aber er konnte nicht sagen, welche Krankheit es ist, deren Symptome da auf so erschreckende Weise sichtbar wurden. Viele griffen bei dem Versuch, eine schlüssige Diagnose zu erstellen, auf das bewährte Mittel des Vergleichs zurück, man arbeitete die Unterschiede zwischen den Motiven der jungen Revolutionäre des Arabischen Frühlings und den „Indignierten“ Spaniens heraus. Viel mehr als die wenig überraschende Tatsache, dass die Ereignisse in Kairo, Tunis, Madrid, Athen und London schwer vergleichbar sind, kam dabei nicht heraus.

Der britische Kolumnist Charles Moore bot noch vor den Londoner Krawallen im „Daily Telegraph“ erstmals eine Erklärung an, die aufs Ganze geht. Er stelle sich die Frage, schrieb der bekennende Konservative Moore, ob nicht am Ende die Linke recht habe mit ihrem Vorwurf, dass das herrschende System nur dazu diene, die Reichen reicher und die Armen ärmer zu machen. Frank Schirrmacher, Feuilleton-Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, schloss sich Moore emphatisch an und warf den konservativen Parteien vor, sie hätten ihren bürgerlichen Wertekanon von neoliberaler Ideologie und „Marktfundamentalismus“ kapern lassen.

Zu wenig, nicht zu viel Marktwirtschaft

Man kann gegen Moores und Schirrmachers aufsehenerregende „Kehrtwende“ viel einwenden. Zunächst einmal den Verdacht, dass es sich um nicht viel mehr handle als um einen Akt von „Radical Chic“: Dass die Lordsiegelbewahrer des Konservatismus die Richtigkeit und Notwendigkeit linker Kritik am „neoliberalen Paradigma“ anerkennen, garantiert Aufmerksamkeit. Inhaltlich wird man sagen müssen: Die Idee, dass die Krise, ihre mangelhafte Bewältigung und das Ärgernis von fetten Boni für gerade noch von den Staaten herausgehauene Banker ein Beweis für den Kniefall der Bürgerlichen vor der Ideologie des Marktfundamentalismus sei, ist ziemlich absurd. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Dass man nicht Banken rettete, sondern deren Eigentümer, zeigt nicht die Übermacht, sondern den Mangel an marktwirtschaftlichen Prinzipien.

Der Zorn über das Agieren der Banken vor, während und nach der Krise hat jede Berechtigung, auch wenn schon die Rede von „den Banken“ irreführend ist, weil es jene Bankhäuser zu Unrecht mit in die Kritik nimmt, die immer noch ihre klassische Rolle spielen als Versorger der Realwirtschaft mit Kapital, das sie als Einlagen verwalten. Es ist ein Ärgernis, dass Einzelne und Institutionen, die unter dem Titel „Risikoprämien“ über viele Jahre bessere Gewinne als mit großen Fremdkapital-Hebeln agierende Investmenthäuser gemacht haben, dann, als das Risiko schlagend wurde, ihre Verluste sozialisieren durften. Wer unternehmerisches Risiko als Eigentümer eingeht und scheitert, muss damit rechnen, dass er sein Eigentum verliert. Dass das nicht geschehen ist, gehört zu den Grundelementen der großen Wut, die sich bei jenen breitmacht, die von den Risikoprämien nie etwas gesehen haben, die aber jetzt für die Sozialisierung der Verluste geradestehen müssen.

Richtig liegen, ein Leben lang?

Was das wachsende Unbehagen in unseren Gesellschaften mit der Frage zu tun hat, ob „die Linke“ recht habe, ist allerdings schwer auszumachen. Haben Moore und Schirrmacher wirklich eine Debatte im Sinn, in der es um die alten Fragen zwischen links und rechts gehen soll? Ob also das Kollektiv Vorrang vor dem Individuum haben soll oder das Individuum vor dem Kollektiv? Will man wirklich verhandeln, ob das Eigentum an den Produktionsmitteln der Allgemeinheit oder dem Einzelnen zusteht? Nein. Die eigentliche Stoßrichtung dieser öffentlichkeitswirksamen Form bürgerlicher Selbstbefragung hat Frank Schirrmacher gleich zu Beginn seines Beitrages in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ offengelegt: „Es gibt Sätze, die sind falsch. Und es gibt Sätze, die sind richtig. Schlimm ist, wenn Sätze, die falsch waren, plötzlich richtig werden. Dann beginnt der Zweifel an der Rationalität des Ganzen. Dann beginnen die Zweifel, ob man richtig gelegen hat, ein ganzes Leben lang.“

Ob man richtig gelegen hat, ein ganzes Leben lang: Was für eine Frage. So sieht intellektueller Snobismus in Reinkultur aus. Man sieht, wie übrigens jeder andere auch, dass da einige Dinge ziemlich aus dem Ruder gelaufen sind. Man spürt, wie nur wenige andere, dass sich unter diesen Entwicklungen ein gesellschaftliches Sentiment zu bilden beginnt, das umstürzlerisches Potenzial hat. Und die bange Frage, die man sich stellt, ist, ob man richtig gelegen hat, „sein Leben lang.“ Hallo?

Was sich da an Kapital auf den internationalen „Zornbanken“ (Peter Sloterdijk) ansammelt, hat mit links und rechts wenig zu tun und absolut nichts mit der Frage, ob man richtig gelegen hat, sein Leben lang. Das gesellschaftsverändernde, ja umstürzlerische Potenzial dieser Wut rührt gerade daher, dass sie in den uns bekannten Kategorien von links und rechts, von sozialistisch und „bürgerlich“, nicht mehr beschreibbar ist. Dennoch haben die Wütenden und Zornigen, die den Eindruck haben, dass sie von allem nichts haben und der um sein lebenslanges Rechthaben besorgte Feuilletonist eines gemeinsam: Sie spüren, dass etwas zu Ende geht und etwas Neues beginnt. Und sie möchten gern dabei sein: der eine als erster Deuter und die vielen als Beteiligte. Diesmal wären sie gern dabei, diesmal würden sie gern ihren Anteil haben.

Partizipation ist einer der Schlüsselbegriffe für das Neue, das sich ankündigt. Menschen, die von den Einkommen, die sie mit harter Arbeit erzielen, kaum leben können, wollen mehr Anteil am gesellschaftlichen Reichtum. Manche von ihnen finden, der Staat müsste dafür sorgen, dass sie mehr und „die Reichen“ weniger bekommen. Sind das die Linken? Andere meinen, der Staat solle zurückhaltender werden bei dem, was er ihnen von ihrem Einkommen wegnimmt. Sind das die Rechten? Ähnliches tut sich im politischen Feld. Immer mehr Bürger haben den Eindruck, dass die überkommenen Institutionen nicht mehr dazu in der Lage sind, die öffentlichen Angelegenheiten zufriedenstellend zu regeln. Die Kämpfer für mehr direkte Demokratie – sind das Linke oder Rechte? Die „Wutbürger“, die die Dinge angesichts eines immer träger erscheinenden politischen Apparates selbst in die Hand nehmen möchten: Linke? Rechte?

Frank Schirrmacher beklagt, dass sich der „Neoliberalismus“, was immer das auch ist, im „Depot des bürgerlichen Denkens“ bedient habe: „Freiheit, Autonomie, Selbstbestimmung bei gleichzeitiger Achtung von individuellen Werten, die Chance zu werden, wer man werden will, bei gleichzeitiger Zähmung des Staates und seiner Allmacht.“

Ja, wo sonst als im Depot bürgerlichen Denkens sollte sich ein Liberaler denn bedienen? Erstaunlich ist nicht dies, sondern der Umstand, dass jemand, der den Eindruck hat, dass einzelne Akteure die Leihstücke aus dem Depot missbrauchen, die konservativen Parteien angreift, weil er sie für die brennende Sorge um sein eigenes Rechthaben verantwortlich macht. Die gerechte Strafe, scheint er zu denken, wäre wohl, dass nun doch die Linken recht gehabt haben.

Worum geht es?

Es geht nur nicht darum, wer recht gehabt hat. Es geht darum, zu verstehen, was die, die weder recht noch sonst etwas haben, sich von der Zukunft erwarten. Es geht darum, ihren Erwartungen realistische Szenarien gegenüberzustellen. Es geht darum, sie ernst zu nehmen, indem man ihnen nicht Märchen über gesicherte Pensionen und Pflege für alle erzählt. Es geht darum, ihnen zu beweisen, dass der Missbrauch von Freiheit nicht die Idee der Freiheit diskreditiert, sondern den Freiheitswächter, der zusieht. Es geht tatsächlich darum, dass jeder die Chance hat zu werden, wer er werden will. Und es geht darum zu begreifen, dass gleiche Chancen unterschiedliche Ergebnisse zur Folge haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2011)

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