Jugendkriminalität: Die Gangs von London

Jugendkriminalitaet Gangs London
Jugendkriminalitaet Gangs London(c) AP (Rodrigo Abd)
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Laut Schätzungen sind mindestens sechs Prozent der britischen Jugendlichen in Straßengangs organisiert. Sie handeln mit Drogen, brechen ein, stehlen und liefern sich teils bewaffnete Kämpfe mit rivalisierenden Gangs.

Ali Niaz tastet mit dem Zeigefinger vorsichtig über seine braune glatte Stirn und zeigt auf eine blasse Narbe: ein bleibendes Andenken an seine Anfänge als Gangmitglied in Südlondon anno 2005.

„Wir hatten gerade unsere erste Waffe besorgt, eine neun Millimeter, und haben damit rumgespielt. Mein Freund hat sie mir an den Kopf gehalten. Das Magazin war leer, aber im Lauf war noch eine Kugel.“ Der 23-Jährige grinst verlegen: „Das Blei steckt jetzt noch in meinem Hirn.“

Die Erinnerung an den beinahe tödlichen Unfall scheint Ali Niaz fast peinlicher als seine Vergangenheit als Mitglied der „Stick'em up Kids“ (in etwa: „Hände-hoch-Kids“, kurz SUK), einer von geschätzten 200 Street Gangs, also Straßenbanden, die allein in London aktiv sein sollen und deren Bekämpfung Premier David Cameron nach den jüngsten schweren Unruhen zur nationalen Priorität erklärt hat.

Die Gang „war der einfachste Weg, um an Geld zu kommen“, sagt Niaz, dessen Familie aus Pakistan stammt, zur „Presse am Sonntag“. „Da sieht man auf der Straße die älteren Dealer mit ihren Gucci- und Louis-Vuitton-Sachen – und das will man auch. Ich hab schon als Teenager einen Golf GTI gefahren, konnte mir alles leisten, meine Familie unterstützen, hatte immer Geld in der Tasche.“

Die Gang, mein Leben. Niaz, mit Prada-Brille und schwarzen Nike-Turnschuhen, grinst: „Wir haben im Prinzip die amerikanischen Gangs kopiert, von den Namen bis zur Rap-Musik. Als ich irgendwann ,The Wire‘ (preisgekrönte US-Fernsehserie über Banden in Baltimore, Anm.) habe ich gedacht: ,Das ist mein Leben.‘“
Mit seinem zwar ärmlichen, aber intakten Elternhaus ist Niaz eine Ausnahme unter den Kindern und Jugendlichen in den sozialen Brennpunkten, in denen die Gangs ihre Mitglieder rekrutieren, sagt Andy Smith, Chef der kleinen Jugendhilfsorganisation „Regenerate“ im „Alton Estate“ im Südlondoner Stadtteil Roehampton. Das Sozialbaugebiet mit 44 Hochhäusern, Dutzenden kleinerer Wohnblocks und 15.000 Menschen auf rund zwei Quadratkilometern ist eines der größten in Großbritannien. 40 Prozent der Kinder in dem Wahlkreis gelten offiziell als arm, das soziale Gefälle zu den schicken Nachbarvierteln ist dramatisch.

Die Gang, meine Familie. Viele Kinder im Alton Estate packen die Schule nicht, finden keinen Job, oft hatten auch schon Eltern und Großeltern keine Arbeit. „Die Kinder wachsen in diesen Wohnungen auf, es gibt nichts zu essen, der Vater ist weg, die Mutter vielleicht drogenabhängig, und dann sehen sie draußen die Gangs, die Dealer, die sich alles leisten können. Da ist die Versuchung groß“, sagt Smith, der selbst seit 15 Jahren hier lebt.

„Die Gang ist für viele Kinder die erweiterte Familie“, sagt Mark Bushell, Sprecher des „Brathay Hall Trust“, einer Organisation, die im Stadtteil Westminister ein Ausstiegsprojekt für Gangs anbietet. „Sie bietet ihnen Schutz, das Gefühl, irgendwo dazuzugehören.“ Mindestens sechs Prozent der britischen Jugendlichen sollen Mitglied in einer Street Gang sein, also einer Bande, die in kriminelle Aktivitäten verwickelt ist, einem bestimmten Code folgt und ein abgestecktes Territorium beherrscht. Niaz, SUK-Spitzname „Kodak“, glaubt aus eigener Erfahrung, dass der Anteil in den betroffenen Vierteln aber viel höher ist: „Irgendwie waren alle dabei, denn entweder sie waren für uns oder gegen uns.“

Die Gang, mein Arbeitgeber. Schon Elfjährige heuern bei den Banden an, um Schmiere zu stehen oder Drogen an Eltern und Nachbarn zu verkaufen. Selber Drogen nehmen aber die wenigsten: „Höchstens Cannabis. Aber Crack oder Heroin ist verpönt, wer das bei uns genommen hätte, wäre rausgeflogen“, sagt Niaz. Über die Gewalt redet er nicht so gern: Ein Mitglied von Niaz' alter Gang wurde 2006 von Mitgliedern einer rivalisierenden tamilischen Gang erstochen, weil er sich auf ihr Gebiet gewagt hatte. Oft geraten Unbeteiligte in die Schusslinie: Im März schossen Jugendliche auf Fahrrädern auf einen Lebensmittelladen in Südlondon. Ihr eigentliches Ziel, einen Teenager einer anderen Gang, trafen sie nicht, dafür ein fünfjähriges Mädchen. Sie überlebte – gelähmt.

In diesem Jahr wurden in London bereits zehn Teenager erstochen – das letzte Opfer starb erst am Mittwoch auf einem Basketballfeld in Nordlondon. Ob auch in seinem Fall Banden eine Rolle gespielt haben, ist noch unklar. Viele Morde im Gang-Milieu werden gar nicht aufgeklärt und manche Übergriffe der Polizei erst gar nicht gemeldet. In vielen Vierteln herrsche eine Kultur der Angst, sagt Claudia Webbe, Aktivistin für Rassen- und Chancengleichheit. „Gewalttätige Gangmitglieder sind nur eine kleine Minderheit in den Vierteln. Und jeder kennt sie. Aber wenn die Leute der Polizei nicht trauen, dann gehen sie auch nicht hin.“

Die Gang, meine Waffe. Das Misstrauen gegenüber der Polizei habe eine lange Geschichte, sagt Webbe. Schließlich würde diese vor allem junge Schwarze immer wieder grundlos anhalten und durchsuchen. Früher hätten ältere Dealer das Geschäft und die Straße beherrscht. Auch sie hätten gemordet und Angst verbreitet. „Aber die Jugendbanden sind viel chaotischer, unberechenbarer. Sie zücken schon wegen Kleinigkeiten das Messer oder die Pistole.“

Webbe, Labour-Abgeordnete im Bezirk Islington, gründete in den 1990ern die Bürgerbewegung „Operation Trident“. Sie forderte von der Polizei, sich intensiver um Schießereien zu kümmern, bei denen Schwarze nicht nur mutmaßliche Täter, sondern auch Opfer waren. Die entsprechende Sondereinheit wurde schließlich 2000 gegründet, mit dem speziellen Auftrag, illegale Waffen aus dem Verkehr zu ziehen.

Trident war auch an der Festnahme von Mark Duggan beteiligt, dessen Tod am 4. August im Zuge der Aktion – er wurde von einem Polizist erschossen – als Auslöser für die Unruhen gilt. Der 29-Jährige soll nach Medienberichten ebenfalls Chef einer Bande gewesen sein; doch Claudia Webbe sagt dazu nur: „Wo sind die Beweise?“ Die Labour-Politikerin glaubt auch nicht, dass die Straßengangs maßgeblich an der Organisation einzelner Plünderungen beteiligt waren: „Die Rolle der Gangs ist doch noch gar nicht erwiesen. Cameron braucht doch bloß einen Sündenbock.“

Auch Andy Smith von „Regenerate“ glaubt nicht, dass jetzt geplante Maßnahmen wie tägliche Besuche von der Polizei oder nächtlicher Hausarrest dabei helfen werden, Jugendliche aus Gangs zu lösen: „Wir müssen diesen Kindern eine Alternative aufzeigen.“

Bei Ali Niaz ist das gelungen: 2008, bevor er wegen Drogenhandels für zwei Jahre ins Gefängnis musste, nahm Smith ihn mit nach Kenia, um bei einem Hilfsprojekt für obdachlose Kinder mitzuarbeiten. „Die Erfahrung hat mir echt die Augen geöffnet“, sagt Niaz. „Ich sah, dass wir in Großbritannien immer noch eine Wahl haben. Wir müssen nicht kriminell werden, auch wenn wir arm sind. Viele Leute in Kenia haben diese Wahl nicht. Sie haben nichts zu essen, keine Arbeit, keine Aussicht auf Bildung. Wir können sogar noch im Gefängnis zur Schule gehen.“

Die Gang, meine Vergangenheit. Niaz will seinen Geschäftssinn nicht mehr für Drogen, sondern für andere Menschen nutzen. Er hat ein Unternehmen („Aspire to be great“ – „Strebe danach, groß zu sein“) gegründet, darin berät er Jung- und Kleinunternehmer. Und kümmert sich um seinen Sohn (3). Von seinen alten Freunden hält er sich fern: „Ich will nicht in Versuchung geführt werden, das Geld ist gerade knapp. Und irgendwie wollen wir doch alle den Plasma-Fernseher-Lifestyle.“

Mehr als sechs Prozent der britischen Jugendlichen sollen in kriminellen Straßengangs organisiert sein, die sich vor allem aus Kindern und Jugendlichen von Zuwandererfamilien rekrutieren. Allein in London gibt es mindestens 200 solcher Banden, im ganzen Land wohl mehr als tausend.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.08.2011)

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