Häfner: „Wir müssen uns in Europa weh tun können“

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Der Grüne Europa-Parlamentarier Gerald Häfner kämpft seit Jahrzehnten für mehr direkte Demokratie in Deutschland und Europa. Den Umgang mit der Euro-Schuldenkrise sieht er als Verfall demokratischer Standards.

Die Presse: Der Lissabon-Vertrag sollte mehr Parlamentarismus und Bürgerbeteiligung in die EU bringen. Jetzt haben Merkel und Sarkozy das Kommando über Europa in der Schuldenkrise übernommen. Wie sehen Sie das?


Gerald Häfner: Als einen dramatischen Verfall demokratischer Standards, der in keiner Hinsicht gut tut: weder der Politik noch den Menschen noch der Sache – das heißt der Wirtschaft und dem Euro. Die Politik trifft über Nacht panikartige Entscheidungen, die Symptome kurieren, bestenfalls Zeit kaufen, aber nicht zu den Ursachen der Probleme vordringen. Merkel trifft Sarkozy, am nächsten Morgen liest man in der Zeitung, was entschieden wurde. Das ist wunderbar inszeniert, aber es passt nicht in eine Demokratie des 21. Jahrhunderts. Es geschieht ohne Bürger und angeblich ohne Alternativen. Eine öffentliche Diskussion fehlt völlig: Wohin wollen wir mit unserer Währung? Wie wollen wir die Haushaltspolitik gestalten? Welche Regeln sollen für Banken gelten? All das wird nur in kleinen Gremien diskutiert, in denen häufig Lobbyisten sich selbst die Gesetze schreiben.

In einer Ausnahmesituation muss man Regeln auch aussetzen können ...

Wir haben die Ausnahme zum Dauerzustand der Entscheidungsfindung erhoben. Ohne demokratische Regeln werden wir die Demokratie bald abgeschafft haben.

Eine öffentliche Debatte raubt viel Zeit, die wir nicht haben.

Das Gegenteil gilt. Ich plädiere für eine neue Kultur der Langsamkeit, für „Slow Politics“: Lieber noch einmal nachdenken, bevor man entscheidet. Es ist eine riesige Geld- und Spekulationsblase entstanden. Es ist mehr Geld unterwegs, als von tatsächlichen Werten gedeckt ist. Wir pumpen noch mehr künstliche Liquidität hinein. Das stabilisiert vorübergehend, aber es destabilisiert auf Dauer. Die Schulden wachsen weiter. Wir müssen eine kontrollierte Landung einleiten: allmählich Liquidität absaugen, um wieder zu realen Werten zu kommen. Dazu gehört auch, Verluste zu realisieren. Es ist auf Dauer kein ökonomisches System zu erhalten, in dem immer nur Gewinne gemacht werden. Das ist nicht im Sinne der Marktwirtschaft, wenn wir Gewinne aus Spekulationen zulassen, aber die Verluste den Steuerzahlern aufbürden. Die werden das bald nicht mehr mitmachen.

Die Zusammenhänge in der Schuldenkrise sind sehr komplex, nur Experten können sie nachvollziehen.

Eher umgekehrt: Wenn wir keine Debatte zulassen, besteht die Gefahr der schrecklichen Vereinfachung. Dann ist die Stunde der Populisten da, die im Grunde gerne sehen, dass Europa an die Wand fährt. Viele Studien zeigen: Je mehr die Bürger beteiligt werden, umso solider sind die Finanzen und umso erfolgreicher ist die Wirtschaft. Weil die Bürger wissen, dass beim Schuldenmachen am Ende immer sie die Zeche zahlen. Politiker hingegen machen gerne Schulden, weil sie so in der eigenen Amtsperiode das Problem scheinbar lösen, aber die Folgen anderen aufbürden.

Direkte Demokratie zu lernen braucht Zeit. Die Schweizer haben Erfahrung damit, die EU-Bürger nicht. Wenn Europa an der Kippe steht, ist es doch der falsche Zeitpunkt, um es mit Volksabstimmungen zu versuchen ...

Wann, bitte schön, wäre denn der richtige Zeitpunkt? Mit dieser Einstellung hätten wir noch einen Kaiser Wilhelm und Sie einen Franz Joseph. Der Fortschritt kommt von selbst: Die Gesellschaft differenziert sich aus, die Menschen wissen mehr, nehmen teil, etwa über das Internet. Nur wenn man sich dem in den Weg stellt, kommen Länder in massive Krisen. Demokratie heißt „Learning by Doing“: Man lernt, indem man sich eine Meinung bildet – weil man weiß: Am 5. November ist Abstimmung. In Österreich wurde nie so lebendig diskutiert wie 1978, vor der Abstimmung zu Zwentendorf. Anfangs zeigten die Umfragen ein anderes Bild als am Ende – das war das Ergebnis des Lernens.

Dass eine EU-weite Volksabstimmung möglich ist, führt dazu, dass Politiker einen Anlassfall mit Tricks verhindern.

Diese Tricks sind ein Schuss nach hinten, weil sich die Bevölkerung immer mehr ärgert und das Vertrauen schwindet. Seit zwei Jahren kommen die Politiker zusammen, nehmen große Summen in die Hand und verkünden: Das Problem ist gelöst. Einige Monate später stellt man fest: Nichts ist gelöst, das Problem ist größer. Die Politik verspielt das Vertrauen der Bürger, um das Vertrauen der Märkte zu erhalten. Am Ende verliert sie das Vertrauen beider Seiten.

Was sind die Folgen, wenn der Ärger weiter wächst?

Dann haben wir eine Art Tea Party in Europa, die alles ablehnt, was mit dem Staat zu tun hat. Man muss für Europa werben, aber nicht in Form blinden Jasagertums. Wenn wir aufhören, Fehler offen zu kritisieren, dann überlassen wir es denen, die daraus Honig saugen für antieuropäische und antimoderne Problemlösungen.

Der Stabilitätspakt soll strenger werden. Schon 2005 haben ihn die Deutschen und Franzosen gebrochen und zahnlos gemacht. Hat er noch Chancen?

Ich glaube an strengere Regeln erst, wenn sie eingehalten werden, obwohl es weh tut – oder wenn es echte Sanktionen gibt. Das muss sein, sonst nimmt niemand die Regeln ernst. Erst nach ihrer Anwendung kann und muss man helfen, damit keine allzu großen Schäden entstehen. Aber nicht, indem man Regeln außer Kraft setzt, nur weil in den EU-Ministerräten niemand dem anderen wehtun will.

Sind wir in einer Situation, in der wir uns auch gegenseitig weh tun müssen?

Ja. Leider ist das oft im Leben so. Überwindet man Schwierigkeiten, werden neue Kräfte frei. Man schwächt sich, wenn man Schwierigkeiten aus dem Weg geht. Europa täte gut, mutiger zu sein und seine eigenen Regeln ernst zu nehmen. Wir alle würden profitieren.

Zur Person

Gerald Häfner, Jahrgang 1956, sitzt seit 2009 für die Grünen im europäischen Parlament. Zuvor war das Gründungsmitglied der Grünen in Deutschland Abgeordneter im Deutschen Bundestag und hat sich besonders als Vorkämpfer für eine Stärkung der Demokratie, der Bürgerrechte und der Bürgerbeteiligung hervorgetan. Häfner ist freier Publizist und (Mit-)Gründer verschiedener Initiativen in den Bereichen Demokratie, Bürgerrechte und Verfassung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31. August 2011)

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