Der Kanzler von Kakanien

Vor einem Jahr haben sie den Kanzler erschlagen. Mitten auf der Straße ist es passiert. Direkt vor dem Kanzleramt hat ihm einer eine übergezogen mit einer schweren Eisenstange.

Er hat noch gelächelt, unser Kanzler, der Hugo Valerian. Gelächelt hat er, wie es seine Art war. Denn das mit dem Lächeln hat er immer ernst genommen. „Als Kanzler von Kakanien", hatte Hugo einst seinen Vizekanzler belehrt, „muss man zu den Leuten freundlich sein". Bis zuletzt hat er dieses Motto gelebt. Lächelnd wurde er getroffen, lächelnd taumelte er unter der Erschütterung und lächelnd schlug er mit dem Kopf schließlich auf dem Asphalt auf, dass das Blut nur so spritzte. Ja, er behielt sein Lächeln sogar noch, als sein Herz schon zu schlagen aufgehört hatte. Und wahrscheinlich liegt er jetzt lächelnd in seinem Ehrengrab. Dabei wollte er nur die paar Meter vom Kanzleramt zum Präsidentenpalast auf offener Straße spazieren. So wie er das zuvor schon x-Mal gemacht hatte. Selbstverständlich ohne Bodyguards und nur in Begleitung seines Vizekanzlers und seines engsten Mitarbeiters. „Ich brauch in meinem Land keinen Personenschutz", pflegte Hugo zu sagen. Und das, obwohl in den letzten Jahren das Klima rauer geworden war. Die ruhigen Zeiten, die Kakanien einst erlebt hatte, waren lange vorbei. Auch wenn Valerian ein beliebter Kanzler war, so unbekümmert hätte er nicht sein dürfen.
Teuer hat er bezahlt dafür. Sehr teuer. Gott sei Dank hat man den Täter rasch ausfindig gemacht, denn der Platz zwischen Kanzleramt und Präsidentenpalast war videoüberwacht. Die verzerrte Visage des verrückten Mörders mit seiner Eisenstange kam auf dem Film ebenso gut zur Geltung wie das lächelnde Gesicht des verstorbenen Helden. Das Fernsehen hat die Szene rauf und runter gespielt. Der Wahnsinnige war schnell ausgeforscht, seine Nachbarn hatten ihn erkannt und der Polizei gemeldet, ohne dass diese von selber hätte aktiv werden müssen. Leo Herwig Oswald hieß der Mann. Ein Arbeitsloser, ledig und ohne Kinder, dafür hielt er sich sieben Ratten als Haustiere. Ziemlich eigenartiger Typ. Er leugnete die Tat auch keine Sekunde, gab sofort alles zu. Ein Einzeltäter sei er, versicherte er bei der Einvernahme. Es war das erste, was er zur Polizei sagte: „Ich bin ein Einzeltäter."
Die STAPO war sich aber nicht sicher, ob das stimmte. Wieso sollte so ein kleines Würstchen den Kanzler töten? Wo war das Motiv?
Oswald gab dazu an, dass er ein individualistischer Anarchist wäre, also einer, der ohne jegliche Vernetzung und völlig auf eigene Faust versuchen wollte, durch den Kanzlermord die Anarchie auszulösen. Er ratterte das immer wieder wie auswendig gelernt herunter. Auf die Nachfrage der Polizei, was denn mit Anarchie in seinen Augen gemeint war, konnte er aber nichts Vernünftiges antworten. „Chaos eben. Reines Chaos", sagte er nur.
In Kakanien war man natürlich entsetzt über das Verbrechen, umso mehr als man politische Unruhen dieser Art nicht gewöhnt war. Die Medien überschlugen sich in Mutmaßungen über die Hintergründe der Tat. Kaum jemand konnte glauben, dass Oswald ein Einzeltäter war. Die rechtsextremen Gruppierungen des Landes vermuteten einen islamistischen Drahtzieher und forderten weitere Verschärfungen des Fremdenrechts. Dabei hatte Kanzler Hugo in dieser Beziehung schon einiges weitergebracht. „Unsere ausländischen Mitbürger müssen sich den Traditionen und Werten dieses Landes verpflichtet fühlen", hatte er in einer viel beachteten Rede einst gesagt. Bei einem Viertel Wein mit seinem Vizekanzler und seinem engsten Mitarbeiter, dem Ferdl Moser, konnte er aber auch deftiger werden. „Das Ausländer-Gesindel soll sich anpassen, sonst schmeißen wir es raus aus Kakanien wie die Ratzen", hatte er geschimpft. Der Vizekanzler und der Ferdl Moser hatten dann staunend und ehrfurchtsvoll beobachtet, wie der Hugo Valerian eine kranke Ratte, die unter dem Tisch des Gastgartens auf der Suche nach Essbarem gewesen war, mit einer blitzschnellen Handbewegung gepackt, ihr das Genick gebrochen und sie dann am Schwanz genommen und durch die Luft geschleudert hatte. So kannte den Kanzler kaum jemand. Darum war seinen Begleitern, den beiden einzigen Zeugen dieses Vorfalls, ob dieser beeindruckenden Grobheit damals richtiggehend die Spucke weggeblieben. Danach hatte der Hugo sein Glas gehoben und zu seinem Vize gesagt: „Wenn ich einmal in die Politpension gehe, dann musst du meinen Weg fortsetzen. Dann baut ihr mir ein Denkmal hier heroben auf dem Kühnenberg und ich kann auf meine Stadt und unser schönes Kakanien runterschauen." Diese Worte waren dem Vizekanzler, der jetzt Kanzler war, noch gut in Erinnerung. Daher veranlasste er auch den Bau einer Valerian-Statue. An den Spekulationen über den Tod Valerians beteiligte er sich hingegen nicht. Die STAPO fand auch keine weiteren Hinweise mehr auf einen Komplizen oder Drahtzieher. So wurde der Fall nach fünf Wochen schon abgeschlossen, Leo Herwig Oswald als Einzeltäter vor Gericht gestellt. Im Prozess blieb er bei der Aussage, die er bei der ersten Einvernahme schon zu Protokoll gegeben hatte. Doch bevor er abgeführt wurde, schrie er in halbverwirrtem Zustand dem Richter zu: „Meinen Viecherln bricht der Valerian nicht das Genick. Meinen Viecherln nicht!"
Niemand hatte diese Worte verstanden. Nur der Ferdl Moser, der engste Mitarbeiter des toten Kanzlers, erschauerte, und es überkam ihn ein schrecklicher Verdacht.

Frage: Welcher Verdacht überkam den Ferdl Moser?

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Der Autor:

Markus Pausch. Jahrgang 1974 und aufgewachsen in Radstadt ist FH-Professor am Zentrum für Zukunftsstudien der Fachhochschule Salzburg. Neben der Wissenschaft widmet er sich auch dem komischen Fach, der Satire und der Literatur.

www.krimiautoren.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.04.2011)

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