Der Bussard wendet den Kopf

Amy Schreiber, Mitte 20, ist „Schmerzmacherin“ in Aus- bildung, Folterin in spe: Marlene Streeruwitz' Roman aus einer Welt, in der es für Verhöre Richtlinien gibt und für Folter Regeln.

Am Anfang steht der Wodka. Es ist der Wodka, der unsere Heldin wärmt, ihr Halt gibt, während sie mit ihrem kleinen, blauen Wagen durch ein einsames, winterlich verschneites Tal fährt – und allein in diesen ersten Szenen ist alles aufgehoben, was uns später in Marlene Streeruwitz' jüngstem Roman, „Die Schmerzmacherin“, noch begegnen wird.

Da ist der frisch gefallene Schnee, der die Fahrbahn bedeckt. Ein Neuanfang! Aber das scheint nur so: Die Räder des Autos geraten unter der dünnen, schönen, gleißenden Oberfläche doch wieder in die alten Spuren. Und auf dem alten festgebackenen Schnee und Eis kommt das Fahrzeug ins Rutschen.

Da ist eine Heldin, die dazu neigt, jede Aktion und Reaktion ihrer Umwelt umgehend auf sich zu beziehen: Und so kränkt sie der Bussard, der von ihrem Herannahen ungestört weiter auf dem Geländer sitzt und langsam den Kopf von ihr wegdreht. Ist das nun Verachtung? Ist sie dem Federvieh zu minder?

Und da ist, von der ersten Seite an, dieses Gefühl, mutterseelenallein in der leeren, weiten Welt zurückgeblieben zu sein. Das ist schlecht. Das ist aber auch gut.

So wie vieles gut und auch schlecht ist – beziehungsweise nicht gut und nicht schlecht – im literarischen Universum von Marlene Streeruwitz, die in ihren Essays so prononciert ideologisch Stellung nimmt und in ihren Romanen einfach nur genau hinschaut; die den Schritten, Handlungen, Gedanken und Wünschen ihrer Heldinnen folgt, egal, ob sie nun „feministisch korrekt“ sind oder nicht. Und dabei sind ihre Romane, in denen Frauen straucheln, wieder aufstehen, wieder straucheln, wieder aufstehen, keineswegs so „deprimierend“, wie sie vor allem bei männlichen Lesern zuweilen ankommen: Es geht nämlich nicht um das „geglückte“ Leben, wie es uns Lifestyle-Magazine vorschreiben, in dem ein erfüllender Job und eine zufriedene Patchworkfamilie zu den Minimalanforderungen zählen. Wir haben, sagt uns Marlene Streeruwitz durch ihre Bücher, ein Leben. Es lebt sich.

Mit der „Schmerzmacherin“ hat Marlene Streeruwitz nun einen Schritt gesetzt, der ihr selbst, wie sie wiederholt erzählt hat, nicht leicht gefallen ist: Ihre Heldin hat nämlich eine Ausbildung in einer privaten Sicherheitsfirma begonnen, und so ist Streeruwitz über drei Jahre eingetaucht in eine Welt, in der es für Verhöre Richtlinien gibt und für Folter Regeln, und in der Private davon profitieren, dass dem demokratischen Staat und seinen Exekutivorganen Grenzen gesetzt sind: Den Privaten wird schließlich nicht so genau über die Schulter geschaut. Wie sieht er nun aber aus, der Alltag einer solchen „Schmerzmacherin“ in Ausbildung? Wie kommt man dazu?

Zunächst einmal: Amy Schreiber, diese Folterin in spe, ist eigentlich eine fehlgeleitete „Gute“ – und somit mit Sicherheit keine, die am Quälen anderer Gefallen finden könnte. Amy, die aus einem klassisch zerrütteten Elternhaus stammt – die Tochter einer Süchtigen ist bei einer Pflegefamilie aufgewachsen –, ist eher aus dem Gleis geraten als brutal. Sie weiß nicht wohin; wenn sie schließlich wo ankommt, weiß sie nicht wozu; und weil sie schon Mitte 20 ist und noch nichts „Rechtes“ angefangen hat mit ihrem Leben, finanziert ihr die reiche Tante in London, die Beziehungen zu einer Sicherheitsfirma hat, diese Ausbildung.

Amy ist guten Willens, sich zu beweisen. Diesmal will sie es richtig machen. Die Sache „durchziehen“. Sie wird ihr Leben noch einmal neu beginnen! In diese Gruppe wird sie sich einfügen. Doch es wird ihr nicht gelingen: Denn hinter der Eindeutigkeit der Befehle, der sachlichen Klarheit der Aufgaben lauert das Chaos der Brutalität.

Und hier wird es insofern spannend, als Streeruwitz eine Krimihandlung entwirft. Nach allen Regeln der Kunst übrigens: vorwärtstreibend mit verlangsamenden Momenten, raffiniert Spannungsbögen auskostend, mit Informationen haushaltend. Und die knappe Sprache der Streeruwitz, dieses poetische Stakkato, fügt sich gut hinein: Amy findet einen Gefesselten im Schnee, verliert selbst das Bewusstsein und gerät erst am Pool eines abgewirtschafteten Hotels zu sich, als sich zwei Mitarbeiter der Firma darüber unterhalten, ob die Giftdosis richtig gewählt war. Ihr Freund und Sexgespiele in öden Nächten wird Opfer eines Überfalls, mit dem ebenfalls die „Firma“ zu tun hat. Es gibt ein Komplott. Eine mutmaßliche Vergewaltigung. Und natürlich einen Toten.

Wobei der Leser das ganze Buch über nie mehr weiß als Amy selbst: Das ist nicht eben viel – was einen Teil der Beklemmung erklärt, die der Leser verspürt –, und es wird auch am Schluss nicht mehr werden: Die kathartische Lösung des Falls wird Streeruwitz verweigern. Weil es eben keinen „Fall“ gibt, sondern nur unterschiedliche Interessen, Begierden und Schwächen, es gibt Machtkämpfe und Intrigen in einer Firma, die irgendwann von Amerikanern übernommen wird, was die Angelegenheit auch nicht durchsichtiger macht.

Mittendrin in diesem Knäuel von Gewalt versucht die zweiflerische Amy, die in sie gesetzten Ansprüche zu erfüllen. Sie ist panisch darauf bedacht, es ihrem Mentor recht zu machen, und tappt gerade deshalb in jede Falle. Überall wittert sie Abweisung, jede Regung, jede klitzekleine mimische Veränderung ihres Gegenübers wird von ihr registriert – es könnte ja gegen sie gerichtet sein. Von Seite zu Seite wird das Misstrauen größer: Was hat ihr Mentor gegen sie? Was hat die Tante mit der Firma zu schaffen? Hofft sie auf den frühen Tod der Nichte in einem fernen Land? Wer ist Freund, wer Feind?

Und so absurd ihre Paranoia zum Teil erscheint: Am Ende sieht es so aus, als sei sie gerechtfertigt. Und wer weiß, was es mit diesem Bussard, der da zu Beginn den Kopf abwandte, wirklich auf sich hat...

Marlene Streeruwitz hat für den Band viel recherchiert. Sie hat sich mit der Struktur dieser Firmen, die den Globus überziehen, eingehend beschäftigt, sie hat Auszüge aus dem „Lehrplan“ notiert, sich über den Ablauf von Verhören informiert. Doch gerade in den Passagen, in denen Folterer und Gefolterter – pardon: der Vernehmende und der Verdächtige – einander gegenüberstehen, wird eine Schwäche des Buches offenbar: Amy ist schlichtweg etwas naiv geraten, etwas gar zu unschuldig.

Aber vielleicht muss das so sein. Nur so ist diese „Schmerzmacherin“ als Heldin auszuhalten. Für den Leser. Aber wohl auch für die Autorin selbst. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2011)

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