Der 11. September hat die Welt nicht verändert

(c) AP (William Kratzke)
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In den vergangenen zehn Jahren gab es kein einprägsameres Ereignis als 9/11. Doch umwälzend waren andere Entwicklungen, die rein gar nichts mit Terror zu tun haben.

Es ist eine Standardformel, die dieser Tage oft zu hören ist: Der 11. September 2001 habe die Welt verändert. Doch stimmt dieser Satz überhaupt? War nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon wirklich nichts mehr so wie es vorher war? Und musste danach tatsächlich alles so kommen, wie es kam?
Der „Angriff auf die USA“, wie es schnell hieß, war zweifelsohne ein monströses Verbrechen. Noch nie zuvor hatte es einen derart vernichtenden Terrorakt gegeben. Die 19 Selbstmordattentäter rissen fast 3000 Menschen in den Tod. Nicht nur Amerika war verwundet, geschockt und zornig, die ganze (westliche) Welt stand und steht bis heute im Bann dieses Ereignisses.


Der 11. September war sicherlich einer der einprägsamsten Tage der jüngeren Geschichte. Fast jeder weiß noch, wann und wo er von der Tragödie erfahren hat. Schon deswegen eignete sich dieser September-Dienstag dazu,  mit historischer Bedeutung aufgeladen zu werden. Binnen kürzester Zeit wurde das Datum selbst zur Chiffre: 9/11.
Es wäre absurd zu behaupten, dass die Anschläge keine wichtigen Konsequenzen gezeitigt hätten. Wenn aber tatsächlich etwas die Welt verändert haben soll, dann war es die Reaktion auf den 11. September und nicht der Terrorakt selbst. Die Ursache bedingte nicht notwendigerweise die Wirkung. Die USA hätten auch anders auf die Attentate reagieren können, planvoller, umsichtiger.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Vermutlich hätte nicht nur George W. Bush, sondern jeder US-Präsident nach Nine-Eleven – ganz zu Recht – zu einem Vernichtungsschlag gegen das Taliban-Regime ausgeholt, das Osama bin Ladens al-Qaida Unterschlupf in Afghanistan gewährt hatte. Doch es stand nirgendwo geschrieben, dass nach dem Feldzug durch einen krassen Mangel an Investitionen in den Wiederaufbau und eine anfangs viel zu geringe internationale militärische Präsenz die Grundlage für die Rückkehr der Taliban geschaffen werden muss.
Noch viel weniger zwingend war der Krieg im Irak eine Folge des 11. September. Saddam Hussein verfügte weder über Kontakte zur al-Qaida noch über Massenvernichtungswaffen. Die US-Regierung nützte das Post-9/11-Trauma vielmehr, um alte offene Rechnungen zu begleichen. Dass die USA im afghanischen und irakischen Sumpf versanken, hatte weniger mit 9/11 zu tun als mit militärischen Fehlentscheidungen und Fehlplanungen. Deren finanzielle und moralische Kosten schwächten die Vormachtstellung Amerikas, aber das wäre vermeidbar gewesen.
Der 11. September bietet sich als historischer Fluchtpunkt an, als Ausgangspunkt aller möglichen Entwicklungen. Man kann, wenn man will, auch die Finanzkrise damit in Zusammenhang bringen. Um eine Rezession zu vermeiden, ließ der damalige Notenbank-Chef Alan Greenspan per Zinssenkung die Märkte mit Geld fluten, was die Immobilienblase füllte, die 2007/2008 platzte. Doch letztlich erklären solche monokausalen Modellkonstrukte, die alles nur auf einen Tag und einen Faktor zurückführen, nur sehr wenig. Eine solche symbolische Aufladung nützt niemandem, außer den Propagandisten der al-Qaida.

Als Ereignis war der 11. September spektakulär und wird deshalb im kollektiven Gedächtnis der Menschheit haften bleiben. Doch auf eine völlig neue Umlaufbahn hat dieser Tag die Geschichte nicht katapultiert. An den großen umwälzenden Entwicklungen, die sich im Schatten des „Krieges gegen den Terror“ beschleunigt haben, hat sich nichts geändert. Während sich die USA und Europa zum Teil obsessiv mit Bin Laden und dem radikalen Islam beschäftigten, holten China, Indien, Brasilien & Co. weiter auf. Was man früher verächtlich „Dritte Welt“ nannte, hat seinen Anteil an der globalen Wirtschaft seit dem Jahr  2000 von 20 auf 34 Prozent erhöht. Europa und die USA stagnierten, die Schwellenländer wuchsen weiter.
Das hat die Welt verändert und wird sie weiter verändern. Die Öffnung Chinas, der Zusammenbruch des Sowjetimperiums, die Globalisierung haben weitaus größere Auswirkungen als der 11. September, so fasziniert wir auch seit zehn Jahren immer wieder auf diesen Tag zurückblicken.


E-Mails an: christian.ultsch@diepresse.com

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