Man muss hoffen, dass die antiisraelischen Kräfte nach dem Arabischen Frühling nicht im Fahrwasser eines naiven Revolutionsglaubens die Oberhand gewinnen.
Lange Zeit schien es so, als spielte sich der Arabische Frühling, der in Tunesien, Libyen und Ägypten lang gedienten Diktatoren die Macht gekostet hat, an der Peripherie dessen ab, was man den „Nah-Ost-Konflikt“ nennt. Die Ausnahme bildete der im Vergleich zum libyschen Militäreinsatz der Nato verhaltene Umgang des Westens mit dem brutalen Vorgehen des Assad-Regimes gegen die Demokratiebewegung in Syrien. Syrien, hieß es, sei zu nah am Glutkern des Konflikts, ein Militäreinsatz gegen Assads Truppen könnte unbeherrschbare Konsequenzen haben, die bis zu einem neuen Krieg im Nahen Osten führen könnten.
Die Auseinandersetzungen zwischen Ägypten und Israel und zwischen der Türkei und Israel zeigen, ebenso wie die bevorstehende Debatte über die Aufnahme des Palästinenserstaates in die Vereinten Nationen, dass der Arabische Frühling auch ohne ein schärferes Vorgehen gegen Syrien sehr direkte Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Israel und seiner arabischen Umwelt hat.
Israel ist in die Defensive geraten. Das Argument, dass ein Staat, der als Reaktion auf den Holocaust gegründet wurde und sich als einzige Demokratie in einem Umfeld von arabischen Despotien im permanenten Kriegszustand befindet, nicht nur ein Recht, sondern geradezu die Pflicht hat, Sicherheitsinteressen höher zu bewerten als etwa ein EU-Mitglied, das in einen großen Friedensteppich eingewoben ist, scheint an Kraft verloren zu haben.
Man wird nicht umhinkommen, die Reaktionen der Regierung Netanjahu auf die Revolutionen in der Nachbarschaft als ungeschickt bis fahrlässig zu bewerten. So zu tun, als sei nichts passiert, geht selten gut. Die sich jetzt verfestigende Sprachregelung, dass nach der wundersamen Demokratisierung der arabischen Welt Israel als einziger böser Militärstaat übrig bleibe, der die armen, unschuldigen Palästinenser knechtet, ist allerdings nicht weniger realitätsfern und fahrlässig.
Die Debatte über den Antrag des Westjordanland-Präsidenten Abbas auf Aufnahme eines Palästinenserstaates, der auch den von der Hamas beherrschten Gazastreifen umfasst, folgt bereits dem neuen antiisraelischen Mainstream: Die bösen Israelis, heißt es, wollen mit brutalen Drohungen verhindern, dass die armen Palästinenser endlich ihren lang ersehnten Staat bekommen, auf den sie doch ein Recht haben.
Ja, die aktuelle Regierung Israels blendet die neue Realität in der arabischen Nachbarschaft aus. Allerdings ist es bestenfalls naiv, so zu tun, als ob diese sich erst formierende Realität bereits zu einer substanziellen Veränderung der israelischen Sicherheitslage geführt hätte. Und es ist doch zumindest verwunderlich, dass jene, die Israel vorwerfen, neue Realitäten zu ignorieren, ohne Weiteres bereit sind, ihrerseits die Gaza-Realität zu ignorieren, die der Anerkennung eines Palästinenserstaates zum jetzigen Zeitpunkt diametral gegenübersteht.
Israel ist dabei, die Schlacht um die Lufthoheit über den internationalen Debattentischen zu verlieren. Schon bisher haben die Islamversteher des Westens so getan, als wären die Fundamentalisten, die dem Judenstaat jedes Existenzrecht absprechen und diese ihre Position jederzeit durch terroristische Gewalt zu untermauern bereit sind, lediglich eine Erfindung der israelischen Propaganda. Der Regimewechsel in Ägypten, dessen Endergebnis noch immer aussteht, und die noch weniger absehbare Entwicklung in Syrien gelten ihnen jetzt als Beweis für ihre These.
In der kommenden Woche wird eine der großen Schlachten im Nah-Ost-Konflikt geschlagen. Wie in militärischen Auseinandersetzungen kommt es auch in diplomatischen Gefechten darauf an, die Lage auf dem Schlachtfeld mithilfe von öffentlichen und vertraulichen Informationen richtig einzuschätzen. Das ist die Schwäche der israelischen Regierung: Ihre Aufmerksamkeit ist derzeit so sehr von innenpolitischer Taktik im Interesse des Machterhalts absorbiert, dass ihr zu viele Fehler in der Einschätzung der äußeren Wirklichkeit unterlaufen. Man muss hoffen, dass die antiisraelischen Kräfte nicht im Fahrwasser eines naiven Revolutionsglaubens die Oberhand gewinnen. Die Regierung Netanjahu gibt dieser Hoffnung nicht wirklich Nahrung.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2011)