Die EU, wie die Türkei sie sich vorstellt

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Der türkische Präsident Gül kritisiert die EU kaum verhohlen als schwach und orientierungslos im globalen Machtgefüge. Güls Grundsatzrede in Berlin musste indes wegen einer Bombendrohung abgesagt werden.

Wien/Berlin. Die Türkei strotzt vor Selbstbewusstsein und Elan. Längst macht sich die türkische Führung nicht nur Gedanken über die Zukunft des eigenen Landes. Ihre Visionen sind grenzüberschreitend. Die Türkei versteht sich zunehmend als Regionalmacht mit gestalterischen Ambitionen.

Eine frische Gelegenheit, die türkische Sicht der Dinge zu erfahren, bot der Besuch von Staatschef Abdullah Gül in Deutschland. In einer Grundsatzrede in der Berliner Humboldt-Universität wollte Gül Montag Abend über die Zukunft der EU aus der Perspektive der Türkei referieren - doch dazu kam es nicht, denn die Veranstaltung musste wegen einer Bombendrohung abgeblasen werden.
Ob Gül eine Gelegenheit haben wird, seinen Vortrag doch noch zu halten, war zunächst nicht klar - der türkische Präsident hält sich jedenfalls noch bis Mittwoch in Deutschland auf. Der Text der Rede, der schon vorab der „Presse" zugeschickt worden war, bietet nichtsdestotrotz Einsichten ins Innere der türkischen Außenpolitik. Gül geizt darin nicht mit Empfehlungen an die EU: „Europa darf in den Fragen, die die ganze Welt betreffen, nicht als orientierungsloser Spieler auftreten, sondern muss eine Führungsrolle übernehmen."

„Alle fallen vom Fahrrad"

Deutlicher noch war Güls Wortwahl während seines Fluges nach Berlin. Die EU sei derzeit schwach und verhalte sich wie ein Fahrradfahrer, der nicht mehr in die Pedale trete und deshalb sturzgefährdet sei, zitierten ihn türkische Zeitungen. Die Paraphrase auf die „Fahrradtheorie" des ersten Europäischen Kommissionspräsidenten Walter Hallstein formuliert er folgendermaßen aus: „Solange die europäische Integration und Erweiterung nicht wie ein Fahrrad ständig weiter vorangefahren wird, fallen alle vom Fahrrad herunter."

Als neuer Dynamo biete sich die Türkei an. Von der künftigen Mitgliedschaft scheint der Präsident trotz der wachsenden EU-Skepsis in seinem Land ziemlich überzeugt zu sein: „Der EU-Beitritt der Türkei wird historische Auswirkungen mit sich bringen", heißt es in der Grundsatzrede. „Wir möchten einer EU beitreten, die in strategischer Hinsicht visionär ist, für den Wettbewerb steht und in kultureller Hinsicht offen ist." Ankara wolle Teil einer EU sein, die ihre globale Verantwortung wahrnehme. Die Türkei bringe in Europa nicht nur eine junge Bevölkerung ein, sondern einen Mehrwert als strategischer Multiplikator, der der EU neue Zugänge zu vielschichtigen Regionen, sprich: zum Nahen Osten und zu Zentralasien, eröffnen könne.

Neue Achse mit Ägypten

Den türkischen Gestaltungswillen im Nahen Osten untermauerte gleichzeitig Außenminister Ahmet Davutoğlu in der „New York Times". Die Türkei werde in der Region eine „Achse der Demokratie" mit Ägypten bilden, erklärte darin der Architekt der türkischen Außenpolitik. In der vergangenen Woche hatte Davutoğlu an der Seite von Premier Recep Tayyip Erdoğan Tunesien, Ägypten und Libyen besucht, jene drei arabischen Staaten also, in denen zuletzt Diktatoren gestürzt worden waren.

Für Israel fand Davutoğlu keine versöhnlichen Worte. Der ehemalige Verbündete sei allein verantwortlich für die Verschlechterung der Beziehungen. Das Verhältnis nähert sich dem Nullpunkt, seit israelische Soldaten vor einem Jahr neun türkische Aktivisten eines Gaza-Hilfsschiffs erschossen und sich nicht dafür entschuldigt haben. Zuletzt hat die Türkei deshalb den israelischen Botschafter aus Ankara ausgewiesen. Um sich an die Spitze des Arabischen Frühlings zu setzen, polt Ankara seine Nahost-Politik derzeit um, auch Syriens Machthaber Bashir al-Assad wurde fallen gelassen. Die Türkei versucht die Lücke zu füllen, die der schwindende Einfluss der USA in der Region hinterlässt.

„Ernstzunehmende Drohung"

Es ist diese Form strategischer Dynamik, mit der auch Gül die Türkei anpreisen will. Von Deutschland erwartet er sich, treibende Kraft der Integration in Europa zu sein - und er warnt zugleich vor der „Bedrohung" durch rechtsradikale Ideologien, die in Anschlägen wie jenem von Anders B. Breivik in Norwegen münden können. Ob der Bombenalarm in Berlin einen rechtsradikalen Hintergrund hat, bleibt abzuwarten. Nach Angaben der Polizei sei die telefonische Drohung schwer verständlich gewesen, aber „als ernstzunehmend einzustufen".

Auf einen Blick

Der türkische Präsident Abdullah Gül traf am Montag zu einem mehrtägigen Staatsbesuch in Deutschland ein. Nach einem Treffen mit Präsident Wulff traf er auch mit anderen deutschen Spitzenpolitikern zusammen. Am Abend hielt er eine Rede in der Berliner Humboldt-Universität. Am Dienstag besuchen Gül und Wulff Osnabrück, die Heimatstadt des Bundespräsidenten. Am Mittwoch reist der türkische Präsident nach Baden-Württemberg.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2011)

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